Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
übertragen. Sie entsprachen nur bedingt Wagners Idealvorstellungen, erst recht aber enttäuschten ihn die Kostüme des Berliner Akademieprofessors Carl Emil Doepler, der um der möglichst authentischen germanischen Erscheinung der Figuren willen mit archäologischer Akribie und historisch-naturalistischem Ehrgeiz Figurinen aus Völkerkundemuseen kopierte und so den Mythos zu der bekannten, vielfach parodierten folkloristischen Maskerade mit Flügelhelmen und Bärenfellen verkleinerte, die jahrzehntelang das Erscheinungsbild des Wagner-Sängers prägen sollte. Durch Pannen – so landete das Mittelteil des von Arnold Böcklin entworfenen und in London hergestellten Drachen in Beirut statt in Bayreuth, was dem Ungetüm auf der Bühne ein ungewollt gedrungenes Aussehen verlieh – wurde die Illusion wiederholt gestört. Einzig dem Obermaschinisten Carl Brandt gelangen einige ingeniöse Lösungen für die phantastischen Szenerien. O ff ensichtlich waren die von Wagner nicht autorisierten Münchner Uraufführungen von Rheingold und Walküre geglückter gewesen, ganz zu schweigen von Tristan und den Meistersingern , die Wagner in München selber einstudiert hatte. Die Mängel der Bayreuther Ring- Uraufführung – auch des Dirigats von Hans Richter, dessen Tempounsicherheit ihn verstörte – hat Wagner selber deutlich empfunden. Er ver fi el in eine Depression, die ihn sogar erwägen ließ, nach Amerika auszuwandern. Die Festspiele endeten mit einem fi nanziellen Fiasko: einem De fi zit von rund 150 000 Mark, das eine Wiederholung in den nächsten Jahren unmöglich machte. Das Festspielhaus musste bis auf weiteres geschlossen werden.
Gleichwohl – und trotz der überwiegend negativen Presseresonanz – waren die ersten Bayreuther Festspiele eine einzigartige Pionierleistung in der Theatergeschichte. »Von einem solchen Unternehmen, wie dem Bayreuther, gab es keine Vorzeichen, keine Uebergänge, keine Vermittelungen«, urteilt Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth (1876) . »Es ist die erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst« (SW I, 433). Die Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I., der Wagner bei seinem Eintre ff en am Bahnhof gesteht: »Ich habe nicht geglaubt, daß Sie es zu Stande bringen würden« (GS X, 109), Kaiser Dom Pedro II. von Brasilien, dem König von Württemberg und dem Wagner seit langem gewogenen Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar sowie anderen Angehörigen des deutschen und europäischen Hochadels veranlasste Wagner in seinem Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876 zu der keineswegs übertreibenden Feststellung: »Es erschien sehr wahrhaftig, daß so noch nie ein Künstler geehrt worden sei; denn hatte man erlebt, daß ein solcher zu Kaiser und Fürsten berufen worden war, so konnte Niemand sich erinnern, daß je Kaiser und Fürsten zu ihm gekommen seien.« (GS X, 105) Wagner, der doch mit seiner Tetralogie einst »den menschen der Revolution […] die bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten sinne, zu erkennen« geben wollte (SB IV, 176), war mit ihr nun bei den Spitzen der aristokratischen Gesellschaft angekommen. Ein Fürst, der für Wagner wichtigste: König Ludwig II., fehlte jedoch in der Galerie der gekrönten Häupter. Zwar nahm er an den Generalproben teil, mied aber die Uraufführung des Zyklus und reiste nach der letzten Generalprobe am 9. August 1876 nach Hohenschwangau zurück, um erst zum dritten Zyklus zurückzukehren, nachdem das Parkett der Großen dieser Welt sich aufgelöst hatte.
Unter den Gästen der ersten Festspiele war freilich auch eine stattliche Reihe prominenter Künstler aus aller Welt, so die Komponisten Anton Bruckner (der Wagner im September 1873 aufgesucht und ihm die Widmung seiner dritten Symphonie angetragen hatte), Edvard Grieg, Peter Tschaikowsky und Camille Saint-Saëns. Das unerhörte Ereignis der Festspiele stand jedoch in schreiendem Missverhältnis zu ihrem fi nanziellen Debakel und der tiefen Unzufriedenheit Wagners mit dem künstlerischen Ergebnis des seit Jahrzehnten erstrebten utopischen Unternehmens. Nach dem Ende der Festspiele reist der lebens- und sterbensmüde Komponist mit Cosima nach Italien: Verona, Venedig, Bologna (dort hatte am 1. November 1871 die erste, zumal von Arrigo Boito betriebene Aufführung einer Wagner-Oper in Italien – Lohengrin – stattgefunden, und die Stadt hatte ihn zum Ehrenbürger gemacht), Neapel, Sorrent, Rom, Florenz. In Sorrent kommt es zur letzten Begegnung mit Nietzsche, der die
Weitere Kostenlose Bücher