Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Tugend der décadents, das Mitleiden.« (SW VI, 28 f.) Auch im Fall Wagner heißt es – in einem ironischen Kontext und doch nicht allein aus ihm heraus erklärbar – über Parsifal : »Ich bewundere dies Werk, ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich es … Wagner war nie besser inspiriert als am Ende.« (»Nachschrift«; SW VI, 43) Diese Einsicht ist erst durch das Monte-Carlo-Erlebnis von 1887 ermöglicht worden. Im Uraufführungsjahr des Parsifal war Nietzsche noch weit von ihr entfernt. Die begeisterten Reaktionen seiner Freunde, ja auch seiner Schwester auf die zweiten Bayreuther Festspiele, die insgesamt ein weit bedeutenderer – ja ein fast unumstrittener – Erfolg waren als die Ring -Festspiele von 1876 (nicht zuletzt auch im Hinblick auf ihre fi nanzielle Solidität), hat er mit Bestürzung zur Kenntnis genommen: »Der alte Zauberer hat wieder einen ungeheuren Erfolg, mit Schluchzen alter Männer usw. […] Meine Schwester schrieb: ›ich fürchte, ein Tauber wäre von der Aufführung begeistert ‹.« (An Peter Gast, 1. August; NW 744)
Nietzsche muss erkennen, dass er und Wagner teilweise immer noch dasselbe Publikum haben, dass dieses Publikum aber, gerade in seinen vorzüglichsten Repräsentanten, eine unüberbrückbare geistige Di ff erenz zwischen ihnen nicht wahrhaben will und nicht gesonnen ist, die Spaltung zwischen den einstigen Freunden für unausweichlich und unüberwindlich zu halten. Dass seine Freunde seinen eigenen Weg nicht radikal mitgehen, nicht einsehen wollen, dass jener mit dem Weg Wagners nicht konvergieren kann, ja dass Wagner ihm seine Anhänger ›wegnimmt‹, wie er – seinem Brief an Peter Gast vom 19. Februar 1883 zufolge – zu seinem Leidwesen feststellen muss, wird Nietzsche in den nächsten Jahren ständig beschäftigen, und es bleibt ihm nur, wie er schon in seinem Brief an Malwida von Meysenbug vom 21. März 1882 schreibt, die Ho ff nung, dass, »wenn ich mich über meine Zukunft nicht ganz täusche, […] in meiner Wirkung der beste Theil der Wagnerschen Wirkung fortleben« wird (SBr VI, 185). In diesem Punkt hat er sich allerdings nicht getäuscht.
Der Tod Wagners am 13. Februar 1883 bedeutet noch einmal einen tiefen Einbruch in Nietzsches emotionale Welt. Als er die Todesnachricht erhält, wird der Schmerz über den unersetzlichen menschlichen Verlust, den er seinerzeit durch den Bruch erlitten hat, ebenso wieder lebendig wie die Genugtuung darüber, mit der Emanzipation von Wagner den entscheidenden Schritt zur Selbstwerdung getan zu haben. Doch diese Genugtuung lindert die tiefe Erschütterung über den Tod Wagners nicht. »Ich war einige Tage heftig krank und machte meinen Wirthen Besorgnisse«, schreibt er am 19. Februar 1883 an Peter Gast. »Es geht nun wieder, und ich glaube sogar, daß der Tod Wagners die wesentlichste Erleichterung war, die mir jetzt verscha ff t werden konnte. Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat, und ich bin nicht grob genug dazu gebaut.« (NW 830) Die befremdliche Bemerkung über die »Erleichterung« angesichts des Todes von Wagner erfährt eine genauere Erklärung durch den zwei Tage später geschriebenen Brief an Malwida von Meysenbug: »W[agner]s Tod hat mir fürchterlich zugesetzt; ich bin zwar wieder aus dem Bett, aber keineswegs aus der Nachwirkung heraus. – Trotzdem glaube ich, daß dies Ereigniß, auf die Länge hin gesehn, eine Erleichterung für mich ist. Es war hart, sehr hart, sechs Jahre lang Jemandem Gegner sein zu müssen, den man so verehrt und geliebt hat, wie ich W[agner] geliebt habe; ja, und selbst als Gegner sich zum Schweigen verurtheilen müssen – um der Verehrung willen, die der Mann als Ganzes verdient.« (NW 830)
»Erleichterung« bedeutet Wagners Tod für ihn, da jetzt diese Verehrung und Liebe keine Barriere der Kritik mehr sein kann, weil er nicht mehr bei jedem polemischen Wort Rücksicht darauf nehmen muss, ob Wagner es lesen oder davon erfahren und sich dadurch verletzt fühlen könnte. Man kann sich freilich des Verdachts nicht erwehren, dass die Erleichterung für Nietzsche ganz einfach auch in dem Gefühl, Wagner nun »los zu sein«, besteht, von dem in der »Nachschrift« zu Der Fall Wagner die Rede ist: »Erlösung dem Erlöser« als »Erlösung vom Erlöser« (NW 6, 41). Der nicht erhaltene Kondolenzbrief Nietzsches an Cosima Wagner – der wahrscheinlich in »Wahnfried« vernichtet worden ist, zu dem sich
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