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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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wiederherzustellen. Malwida von Meysenbug bietet sich als Begleiterin und Betreuerin an und lädt Nietzsche mit seinem Freund Paul Rée 1876/77 nach Sorrent ein, wo sie in der malerischen Villa Rubinacci mit ihren ›Ziehsöhnen‹ eine intellektuelle Idealgemeinschaft zu gründen trachtet. Hier entsteht der erste Teil von Menschliches, Allzumenschliches : Nietzsches Schrift der » grossen Loslösung « als des »Willen[s] zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung« (so die Vorrede zur neuen Ausgabe von 1886; SW II, 15 ff .). Dass es eine Loslösung zumal von Wagner, dem Ungenannten, ist, versteht sich von selbst.
    Das äußere Datum des Zerwürfnisses zwischen Wagner und Nietzsche ist das Eintre ff en des ersten Teils von Menschliches, Allzumenschliches in Bayreuth am 25. April 1878. Knapp vier Monate zuvor hatte Wagner »seinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche« den Privatdruck der Parsifal -Dichtung gesandt – es ist der letzte persönliche Kontakt zu ihm –, mit einer Widmung, in der er seinem Namen unter Anspielung auf den christlichen Gehalt seines letzten Werks scherzhaft die Amtsbezeichnung »Ober-Kirchenrath« beifügte, die übrigens, was meistens übersehen wird, »zur freundlichen Mittheilung an Professor Overbeck« bestimmt war (NW 296), also ein nicht auf Nietzsche, sondern den Basler Kirchenhistoriker und Christentumskritiker zugeschnittener Scherz. (Nietzsche hat diese Bezeichnung ernster genommen, als sie gemeint war. Wagner wurde mit dem Parsifal für ihn wirklich einer der »Priester«, gegen die sich die Predigt Zarathustras im zweiten Teil seiner philosophischen Dichtung Also sprach Zarathustra wenden wird.)
    Nietzsche hat in Ecce homo von einer ominösen »Kreuzung der zwei Bücher« – Parsifal und Menschliches, Allzumenschliches – gesprochen: »Durch ein Wunder von Sinn im Zufall kam gleichzeitig [mit Nietzsches Sendung von Menschliches, Allzumenschliches an Wagner] bei mir ein schönes Exemplar des Parsifal-Textes an, mit Wagners Widmung an mich […]. Klang es nicht, als ob sich Degen kreuzten?« (SW 6, 327) Das ist natürlich eine stilisierende Verrückung der Fakten, lag doch der Parsifal -Text schon seit mehr als einem Vierteljahr auf Nietzsches Schreibtisch.
    Im übrigen war Nietzsche die von ihm später zum eigentlichen Grund des Zerwürfnisses stilisierte Parsifal -Dichtung schon seit dem ersten Weihnachtsfest in Tribschen in ihrem detaillierten Prosaentwurf von 1865 bekannt. »Mit Pr. Nietzsche Parzival gelesen«, notiert Cosima am 25. Dezember 1869, »erneuerter furchtbarer Eindruck.« (NW 1154) Die abgeschlossene Dichtung konnte für Nietzsche also keine Überraschung – vor allem nicht der Schock sein, den er später simuliert hat. Die Tendenzen des Werks waren ihm längst vertraut. Noch am 10. Oktober 1877 – fast ein Jahr nach der letzten Begegnung mit Wagner – schreibt er an Cosima: »Die herrliche Verheißung des Parcival mag uns in allen Dingen trösten, wo wir Trost bedürfen.« (NW 294)
    Wagners Urteil über Menschliches, Allzumenschliches fällt angesichts der deutlich gegen ihn und seine ästhetische Ideologie gerichteten neu-aufklärerischen Tendenz – das Buch ist dem Andenken Voltaires gewidmet – begreiflicherweise ganz und gar negativ aus. Menschliches, Allzumenschliches beginnt mit einem Descartes-Zitat, in dem der Geist streng methodischen Forschens als Quelle der Freude gepriesen wird. Damit ist der Ton des Buchs angestimmt: der »Geist der Wissenschaft« (SW II, 27) soll an die Stelle der metaphysisch-ästhetischen Spekulationen der früheren Schriften Nietzsches treten. Traditionelle Metaphysik, Moral und Ästhetik werden einer scharfen Ideologiekritik unterzogen. Eine Kunst, die sich von den Banden der herkömmlichen Religion und Metaphysik nicht löst, ist wie diese zum Untergang bestimmt. Die schon im Entstehen begri ff ene neue, höhere Kultur ist aber von den Prinzipien des historischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Denkens geprägt.
    Dagegen wehrt sich nun Wagner in seinem Aufsatz Publikum und Popularität im Augustheft der Bayreuther Blätter vehement. Cosima tituliert ihn am 21. Juni 1878 als »Spaß über N[ietzsche]« (NW 1198), denn er enthält im dritten Absatz eine verdeckte Polemik gegen Nietzsche – wie auch dieser den Namen Wagners in Menschliches, Allzumenschliches unterdrückt hat. Wagner verhöhnt satirisch die Repräsentanten der »Wissenschaft« nach Art des ungenannten Nietzsche, welche »auf uns Künstler,

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