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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Festspiele später zur Wende in seiner Beziehung zu Wagner stilisieren wird.

Nietzsches Abwendung
    Seit Wagners Übersiedlung nach Bayreuth ist Nietzsche immer seltener Gast im Hause Wagner. Das ist aufgrund der räumlichen Entfernung begreiflich, doch kommt es nach dem Höhepunkt der Grundsteinlegung des Festspielhauses und Wagners Verteidigung der Geburt der Tragödie gegen die Polemik von Ulrich von Wilamowitz-Moellendor ff zu einer immer größeren persönlichen Distanz Nietzsches zu Wagner. Dieser freilich verkehrt mit dem jungen Freund weiterhin auf dem alten vertrauten Fuße. Am Allerseelentag 1873 schickt er ihm die neun Bände seiner Gesammelten Schriften und Dichtungen mit einem Begleitgedicht voller humoristischer Kapriolen, die in Nietzsche, der nicht gerade mit Humor gesegnet war, kaum den passenden Adressaten fanden. Im neunten Band ist auch der ö ff entliche Brief Wagners gegen das Pamphlet von Wilamowitz-Moellendor ff enthalten.
    Was ich, mit Noth gesammelt,
neun Bänden eingerammelt,
was darin spricht und stammelt,
was geht, steht oder bammelt, –
    Schwert, Stock und Pritzsche,
kurz, was im Verlag von Fritzsche
schrei, lärm oder quietzsche,
das schenk ich meinem Nietzsche,
    wär’s ihm zu was nütze! (NW 233)
    Im Hause Wagner macht man sich Sorgen um Nietzsche – nicht nur um seinen Ruf als Philologe, sondern auch wegen seiner sich
verschlechternden Gesundheit und charakterlichen Verdüsterung (dass er »sich vergrämelt«, wie Cosima sich ausdrückt): »Er muß heiraten oder eine Oper schreiben«, scherzt Wagner gegenüber Cosima (4. April 1874; NW 1190) und wiederholt diesen Vorschlag – hinter dem, so humoristisch er klingt, Bedenken Wagners wegen der o ff enkundig fehlenden erotischen Kontakte Nietzsches stehen – in einem herzlich-polternden Brief vom 6. April, der zugleich neckend kritisiert, dass Nietzsche sich zunehmend von Bayreuth fernhält.
    Trotz aller herzlichen Anteilnahme an Nietzsches beruflichem und persönlichem Be fi nden häufen sich Missstimmungen im Hause Wagner, die nicht zuletzt durch die langen Briefpausen vonseiten Nietzsches und seine zunehmende Abstinenz von privaten Kontakten ausgelöst werden. O ff enkundig sperrt Nietzsche sich mehr und mehr gegen die Übermacht der Persönlichkeit Wagners, sucht er sich der Liebesumklammerung zu entziehen, die ihm seine Freiheit und schöpferische Selbständigkeit zu rauben droht. Als es wegen seines Fernbleibens beim ersten Weihnachtsfest in Bayreuth (1872), das er bei Mutter und Schwester in Naumburg feiert, zu einer ernsten Verstimmung kommt, schreibt Nietzsche in einem Brief an Gersdor ff vom 2. März 1873: »Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt. […] Ich kann mir gar nicht denken, wie man W. in allen Hauptsachen mehr Treue halten könne und tiefer ergeben sein könne als ich es bin […]. Aber […] in einer gewissen für mich nothwendigen beinahe ›sanitarisch‹ zu nennenden Enthaltung von häu fi gerem persönlichen Zusammenleben muß ich mir eine Freiheit waren, wirklich nur um jene Treue in einem höheren Sinne halten zu können.« (NW 396 f.) Diese Distanz Nietzsches scheint es gewesen zu sein, welche Cosima Wagner bereits in ihren Tagebuchaufzeichnungen vom 11. Mai und 3. August 1871 einen »Verrat« von seiner Seite befürchten ließ.
    Abb. 30 : Friedrich Nietzsche (1844–1900)

    Trotz mehr oder weniger untergründiger Di ff erenzen hält Nietzsche Wagner und dem Bayreuther Unternehmen uneingeschränkte Treue, wie zumal sein Mahnruf an die Deutschen (1873) zeigt, als das Bayreuther Unternehmen in die Krise gerät. Das Jahr 1874 hätte leicht das große Unglücksjahr für Wagner werden können. Das Bayreuther Unternehmen gerät so sehr in fi nanzielle Schwierigkeiten, dass Nietzsche ein totales Fiasko befürchtet. Gegenüber Malwida von Meysenbug, der Verfasserin der Memoiren einer Idealistin (1869–76) – einer der eindrucksvollsten emanzipatorischen Frauengestalten des späten 19. Jahrhunderts, die Nietzsche als enge Freundin der Wagners bei der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses kennengelernt hatte –, bekennt er in seinem Brief vom 11. Februar 1874: »ein Leiden haben wir mit einander gemeinsam, […] das Leiden um Bayreuth. Denn, ach, unsere Ho ff nungen waren zu groß!« Er habe nun »alle Gründe scharf geprüft, weshalb das Unternehmen stockt, ja weshalb es

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