Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
vielleicht scheitert.« (NW 406 f.) Schon jetzt erwägt Nietzsche einen Essay mit dem Titel »Richard Wagner in Bayreuth« (NW 407). Dieser wäre eine durchaus kritische Analyse des Bayreuther Projekts geworden, hätte ganz unter dem Vorzeichen von Wagners Scheitern gestanden. Seine skeptischen Gedanken behält Nietzsche freilich vorerst für sich und unterdrückt sie ganz, als bald darauf das Unternehmen durch den Kredit des Königs gerettet wird. Nietzsches Aufzeichnungen der Jahre 1874 und 1875 enthalten schon fast alle Argumente seiner späteren polemischen Schriften gegen Wagner, jedoch ohne deren schrille Töne. Da wird Wagner bereits als musikalischer Rhetor und immer wieder als »versetzter Schauspieler« (NW 482) charakterisiert. Fast all seine später gebrandmarkten Charakterschwächen werden hier, noch in versöhnlichem Licht, bereits benannt: seine fehlende »Bescheidung« und Bescheidenheit (NW 485, 490), dass er »keine andre Individualität« neben sich gelten lasse, z. B. Brahms (NW 491), seine Eifersucht, die »Neigung zu Pomp und Luxus« (NW 517), der »Tyrannensinn für das Colossale « – angesichts dessen Nietzsche es »für ein Glück« hält, »dass Wagner nicht auf einer höheren Stelle, als Edelmann, geboren ist und nicht auf die politische Sphäre ver fi el« (NW 492) – , die »Unmässigkeit und Schrankenlosigkeit« (NW 483), von der freilich seine Disziplin als Künstler absteche (»es ist, wie bei den Griechen, als Künstler ist er σώφρων , als Mensch nicht«; NW 517), sein »Immer Recht haben«-Wollen, das in der Geschichte der Kunst »der Entwicklung auf sich hin Nothwendigkeit zumißt«, aber »die andern Entwicklungen als Ab- und Nebenwege, auch Irrwege« ansieht (NW 517), die fragwürdig liebedienerische Anhängerschaft und nicht zuletzt die Judenfeindschaft, zu der Nietzsche entschieden auf Distanz geht. Im Zusammenhang mit ihr äußert er den Verdacht, dass Wagner dasjenige, was ihm an sich selbst nicht behagt, gern auf andere Personen und Erscheinungen projiziert, um es in ihnen von sich abzuwenden: »Wagner beseitigt alle seine Schwächen, dadurch dass er sie der Zeit und den Gegnern aufbürdet.« Das ist nach Nietzsche typisch für den modernen Menschen, der den Glauben an Gott durch den ›unfehlbaren‹ Glauben an sich selber ersetzt hat – aber: »Keiner ist mehr gegen sich ganz ehrlich, der nur an sich glaubt.« (NW 486)
Zu den hellsichtigsten Zügen in Nietzsches Psychogramm Wagners gehört der Hinweis auf dessen allwisserisches »Lesen in fremden Individuen«, das »kaum einen recht menschlichen Verkehr zu[lässt]«. Und er fügt hinzu: »Einzig naht ihm die Liebe, aber diese blind, während er sieht. So gewöhnt er sich, sich lieben zu lassen und dabei zu herrschen« (NW 518). Diese Verbindung von Liebesangebot und Herrschaftsgebärde ist für Nietzsche die geheime Formel für die bezwingende Wirkung der Persönlichkeit Wagners. Und doch erscheint dieser in den Aufzeichnungen von 1874 als scheiternder Herrscher. Nietzsche geht nicht nur vom »Misslingen« des Bayreuther Unternehmens aus, dessen »Ursachen« er zu erforschen sucht (NW 487), sondern Wagner erscheint ihm überhaupt als auf höchstem Niveau gescheiterte Existenz – sowohl als Revolutionär wie nun in seiner Königsfreundschaft. Diese brachte ihm künstlerisch und materiell nicht das ein, was er erho ff t hatte, zog ihn dafür aber in den zweifelhaften Ruf dieses Königsphantasten mit hinein. »Ebenso unglücklich liess er sich mit der Revolution ein: er verlor die vermögenden Protectoren, erregte Furcht und musste wiederum den socialistischen Parteien als ein Abtrünniger erscheinen: alles ohne jeden Vortheil für seine Kunst und ohne höhere Nothwendigkeit, überdiess als Zeichen der Unklugheit, denn er durchschaute die Lage 1849 gar nicht. Drittens beleidigte er die Juden, die jetzt in Deutschland das meiste Geld und die Presse besitzen. Als er es that, hatte er keinen Beruf dazu: später war es Rache.« (NW 492 f.) Nietzsches Aufzeichnungen von 1874 stehen unter dem Vorzeichen des befürchteten Scheiterns von Wagner in Bayreuth. Als sich durch den Kredit Ludwigs II. diese Befürchtungen als grundlos erweisen, ist der Analyse des ›Misslingens‹ der Boden entzogen. So fehlen die kritischen Akzente in der Festschrift Richard Wagner in Bayreuth von 1876 schließlich ganz.
In Bayreuth ahnt man nichts von Nietzsches kritischen Anwandlungen, und dessen Bedenken des Jahres 1874 scheinen vergessen,
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