Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Untersuchungen zur Geschichte der teutschen Heldensage (1836). Die Nibelungen, so Wagners Hypothese, seien identisch mit dem alten fränkischen Königsgeschlecht der Wibelungen = Ghibelinen; hier liege die volksetymologische Stabreimangleichung des Namens »Nibelungen« an die historischen Gegner der Welfen vor: Guelfen / Welfen contra Gibelinen / Wibelingen, welch letzterer Name von »Nibelungen« abgeleitet sei; daher die Bildung »Wibelungen« (vgl. GS II, 124).
Wagner geht es jedoch im Grunde nicht um einen wissenschaftlich-objektiven (sprach)geschichtlichen Begründungszusammenhang, sondern er sucht diesen, romantischer Tradition folgend, perspektivisch an den »Glauben« des Volkes zu binden. Ihm liegt gewissermaßen an einer ›alternativen‹ Geschichtsschreibung: einerseits einer »Volksgeschichte« statt der herkömmlichen »Herren- und Fürstengeschichte« (GS II, 124) – hier schlagen die Revolutionsjahre 1848/49 durch, in denen Wagner diese Schrift verfasst hat –, anderseits einer nicht an den Fakten, an der »pragmatischen Ober fl äche der Vorfallenheiten« (GS II, 123) orientierten »trockenen Chronikengeschichte« (II, 125), sondern einer eben in der »Volksanschauung« gründenden Geschichte.
Inbegri ff dieser Volksanschauung aber ist der Mythos. So bildet für Wagner die »Identität des fränkischen Königsgeschlechtes mit jenen Nibelungen der Sage« eine »wenn nicht genealogische, doch gewiß mythische Identität« (GS II, 120), die sich in der angeblich vom »Volksmunde« erzeugten Namensidentität ausdrückt (GS II, 124). Im gleichen Sinne einer »mythischen Identität« ist nach Wagner auch die von den Franken behauptete Herkunft aus Troja zu verstehen. »Mitleidsvoll lächelt der Chronikenhistoriker über solch’ abgeschmackte Er fi ndung, an der auch nicht ein wahres Haar sei. Wem es aber darum zu thun ist, die Thaten der Menschen aus ihren innersten Antrieben und Anschauungen heraus zu erkennen und zu rechtfertigen, dem gilt es über alles wichtig, zu beachten, was sie von sich glaubten oder glauben machen wollten.« (GS II, 137)
Dafür gibt Wagner nun eine von seinen Prämissen her plausible Begründung. Das antike Troja war die »Urstadt«, welche nach dem Glauben der Völker »die ältesten Geschlechter der Menschen bauten und mit hohen (Kyklopen)-Mauern umgaben, um in ihnen ihr Urheiligthum zu wahren«, und die den »Urquell alles Patriarchentumes« in sich schloss (GS II, 138). Alle »größeren Geschichtsvölker«, so Wagner, »kennen eine solche heilige, der alten Götterstadt auf Erden nachgebildete, Stadt, sowie deren Zerstörung durch die neuen Nachkömmlinge« (GS II, 139). Die Völker haben jene »Urstadt« immer wieder »nachgebildet«. Auf den »neuen Stammsitz« aber wurde die »Heiligkeit der Urstadt«, wie Wagner sich ausdrückt, »übergetragen« (GS II, 138). Diese Übertragung gründete bei den Franken in der Überzeugung von der Identität ihres Königsgeschlechts mit dem einst in Troja herrschenden: »der aus ihr [Troja] verdrängte urberechtigte König p fl anzte in ihnen seine alten Königsrechte fort« (GS II, 140).
Diese am Beispiel der »Urstadt« entwickelte Vorstellung, dass die Geschichte gewissermaßen eine Wiederholung mythischer Prototypen ist, prägt die ganze Wibelungen-Schrift, deren Untertitel eben Weltgeschichte aus der Sage lautet. Der erste Abschnitt erörtert die Idee des – sich auf einen »von den Göttern entsprossenen« Stammvater berufenden – »Urkönigthums«, das Wagner in den Spuren von Joseph Görres’ Mythengeschichte der asiatischen Welt (1810) nach Asien, in die »Urheimath der Menschen« (II, 115 f.), verlegt und von dem sich die Geschichte der fränkischen Könige herleite. »Die bei den verschiedenen Völkern bestehende königliche Gewalt, das Verbleiben derselben bei einem bestimmten Geschlechte, die Treue, mit der selbst bei tiefster Entartung dieses Geschlechtes die königliche Gewalt doch einzig nur ihm zuerkannt wurde, – mußten im Bewußtsein der Völker eine tiefe Begründung haben: sie beruhte auf der Erinnerung an die asiatische Urheimath, an die Entstehung der Völkerstämme aus der Familie, und an die Macht des Hauptes der Familie, des ›von den Göttern entsprossenen‹ Stammvaters.« (II, 116)
Das ist die Basis für die stark von der Romantik geprägte Wagnersche Königsidee, an der er auch und gerade während der Revolution festgehalten hat. Der Gedanke des Urkönigtums ist für Wagner der Angelpunkt der
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