Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
des Dramas noch entfernt. Die wahre Kunstgestalt des Dramas lässt sich eben nur an einer einzigen Erscheinung der Geschichte ablesen: an der griechischen Tragödie, denn ihr Sto ff war der Mythos , der selbst schon ein »verdichtetes Bild der Erscheinungen« ist (GS IV, 31), das sich der geschlossenen Form der Tragödie unmittelbar anschmiegt, während die Geschichte – der spezi fi sche Sto ff der modernen Dichtung – jener Form von vornherein widerstrebt. Die griechische Tragödie ist also nichts anderes als die »künstlerische Vollendung« der Formtendenz des Mythos selbst: »so drängte auch die wirklich dargestellte Handlung, ganz dem Wesen des Mythos entsprechend, sich zu plastischer Dichtheit zusammen« (GS IV, 33), zu jener Einheit, die seit der Poetik des Aristoteles als wichtigste Qualität der dramatischen Handlung gilt.
Allein das musikalische Drama kann nach Wagner zu dieser Einheit zurückführen, ohne doch die Fülle des Lebens in der Weise der antikisierenden Tragödie zu beschneiden. In diesem Zusammenhang entwickelt Wagner seine Theorie von der »Verstärkung der Motive« (GS IV, 89 u. ö.), die in der Konzentration eines ganzen Motivkomplexes in einem einzigen gesteigerten Motiv besteht. Hier hat auch Wagners Idee des poetischen »Wunders« ihren Platz (GS IV, 81 ff .), das es ermöglicht, »zerstreute Motive« zu einem »Hauptmotive« zu sammeln, in einem »übersichtlichen […] Bilde« zusammenzufassen und zu verdichten (GS IV, 85). So ist z. B. – Wagner selber kann das Beispiel freilich noch nicht anführen – der Liebes-Todestrank Isoldes die Abbreviatur eines komplexen psychologischen Vorganges, ähnlich wie der Vergessens- und Erinnerungstrank in der Götterdämmerung . Hier wie dort dient der magische Trank, das ›Wunder‹ dazu, zu einem poetischen Augenblick und symbolischen Bild zu verdichten, was etwa der Romancier di ff erenziert dazustellen hätte. Auf diese Di ff erenzierung kann der Dramatiker verzichten, da sie ihm von der Musik, vom Orchester als dem Nachfolger des antiken Chors (GS IV, 190 f.) und ›allwissendem Erzähler‹ im modernen Sinne gewissermaßen abgenommen wird. (»Das Orchester besitzt unläugbar ein Sprachvermögen«, führt Wagner im letzten Teil seiner Hauptschrift detailliert aus; GS IV, 173 u. ö.)
Wird das Leben durch die Motivverstärkung über das gewöhnliche Maß erhöht, so muss auch die Wortsprache eine entsprechende Ausdruckssteigerung erfahren: dies kann aber nur geschehen, indem sie sich in die Tonsprache ergießt – aus deren Mutterschoß sie einst hervorgegangen ist und in die sie wieder eingehen wird wie der Verstand in das Gefühl und die Geschichte in den Mythos (GS IV, 91). Das musikalische Drama antizipiert mithin den utopischen Endzustand der Geschichte. Das Element der Wortsprache aber, das der Tonsprache als der ursprünglichen »Emp fi ndungssprache« noch unmittelbar entspricht, ist der Vokal (GS IV, 22). Wagner deutet ihn als »subjektiven Gefühlsausdruck«, den Konsonanten hingegen als »objektiven Ausdruck des Gegenstandes«. Sprache im eigentlichen Sinne entsteht, indem Gefühl und Verstand, Vokal (»Ausdruck«) und Konsonant (»Eindruck«) zur Wortwurzel zusammentreten (GS IV, 94). Zur Dichtung aber wird die Sprache in dem Moment, da die Ausdrucks-Eindrucks-Zeichen der Wurzeln zu alliterieren beginnen: das ist der Stabreim. In ihm »werden die verwandten Sprachwurzeln in der Weise zu einander gefügt, dass sie, wie sie sich dem sinnlichen Gehöre als ähnlich lautend darstellen, auch ähnliche Gegenstände zu einem Gesammtbilde von ihnen verbinden« (GS IV, 94). Der Stabreim stiftet also zwischen den Dingen ein ähnliches »Beziehungsfest« (Thomas Mann, Richard Wagner und der ›Ring des Nibelungen‹ , 1937) wie das Leitmotivsystem.
Die durch die Makrostruktur der Leitmotive – der »Gefühlswegweiser durch den ganzen vielgewundenen Bau des Drama’s« (GS IV, 200) – verwirklichte Einheit fi ndet also ihr Pendant in der Mikrostruktur der Stabreime. Diese leisten im kleinen, was im großen durch die »Verstärkung der Motive« vonseiten des dramatischen Dichters und durch die auf sie abgestimmten »melodischen Momente« (GS IV, 200) vonseiten des Musikers geschieht (d. h. durch die Leitmotive, welcher Begri ff in Oper und Drama freilich noch nicht vorkommt und auch später von Wagner nur distanziert gebraucht wird): nämlich die »Verdichtung« der vielgliedrig-zerstreuten Erscheinungswelt. Der freie Stabreimvers
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