Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
tritt an die Stelle des endgereimten rhythmischen Verses wie die »dichterisch-musikalische Periode« (GS IV, 154) mit ihrer von der poetischen Absicht gesteuerten harmonischen Entwicklung an die Stelle der konventionellen Tonsatzkonstruktion und die durch die erwähnte Motivverdichtung organisch gebildete Einheit der Form an die Stelle der ›Einheiten‹ der klassizistischen Dramaturgie.
Wagners Oper und Drama , deren Leitgedanken hier wiedergegeben wurden, ist von ihm als theoretische Grundlage seines dramatischen Kosmos nie verleugnet oder auch nur angetastet worden, obwohl – zumal seit seiner ›Konversion‹ zu Schopenhauer – viele ihrer Thesen und Aspekte von ihm später erweitert, di ff erenziert, korrigiert, wenn nicht zurückgenommen wurden und der strenge Systemzwang, den er sich hier auferlegt hat, mehr und mehr in seinem Denken zurücktrat. Als theoretisches Vorspiel oder Geländeprüfung sollte Wagners Hauptschrift Oper und Drama in ihrer Bedeutung für seine musikdramatische Praxis weder unter- noch überschätzt werden.
»Anfang und Ende der Geschichte« – Eine neue Theorie des Mythos
Der Angelpunkt von Wagners Oper und Drama ist seine Theorie des Mythos, die neue Zeichen gesetzt und als ideelles Fundament der Ring -Tetralogie sowie durch ihre Rezeption bei Nietzsche folgenreich auf Philosophie, Kunst und Literatur der Jahrhundertwende gewirkt hat. Der Begri ff des Mythos war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus noch nicht im allgemeinen Sprachschatz eingebürgert. In den großen Wörterbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts steht er ganz im Schatten des Begri ff s »Mythologie« als der historischen Lehre von den heidnischen Götterfabeln. Zudem wird er grundsätzlich mit latinisierter Endung – »Mythus« – verwendet, wie auch bei Wagner in seinen frühen Schriften, noch bei Nietzsche und gar durchweg bei Thomas Mann.
Die Demontage des Mythischen durch die Aufklärung und die Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaft haben seit dem 18. Jahrhundert immer wieder die Sehnsucht nach dem Mythos geweckt: Schillers Gedicht Die Götter Griechenlandes (1788) hat dafür früh den Ton angegeben. In dem Hegel, Hölderlin und Schelling zugeschriebenen sogenannten »ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus« wird angesichts der Mechanisierung des Staates und der Entsinnlichung der Religion das Postulat einer »neuen Mythologie« aufgestellt. Eine solche fordert auch Friedrich Schlegel in seiner Rede über die Mythologie (1800); sie ist eine Art synkretistischer Mythologie aus antik-klassischen, nordischen, indischen und modernen Elementen. Durch diese antiquarischen Züge unterscheidet sie sich tiefgreifend von der späteren Mythoskonzeption Wagners und Nietzsches.
Wagner ist der erste gewesen, der das Wort »Mythos« als Kardinalbegri ff gegenüber »Mythologie« durchgesetzt hat. In Oper und Drama verwendet er den Terminus konsequent mit der griechischen Endung, die, wie gesagt, nicht einmal der klassische Philologe Nietzsche übernommen hat. Von der »Mythologie« mit ihren antiquarisch-didaktischen Implikationen will Wagner nichts mehr wissen. Für ihn wird der Mythos – und damit ist er der eigentliche Schöpfer seines modernen Begri ff s – zum konstanten Erklärungsmodell der Wirklichkeit: »Das Unvergleichliche des Mythos ist, daß er jederzeit wahr, und sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist. Die Aufgabe des Dichters war es nur, ihn zu deuten.« (GS IV, 64)
Vier Punkte sind hier von entscheidender Bedeutung: der erste ist die durch keinen Zeitbezug beschränkte Wahrheit des Mythos, der zweite seine bereits erwähnte Struktur »dichtester Gedrängtheit«, der dritte seine Unerschöpflichkeit, da seine Wahrheit nie in einer bestimmten Auslegung aufgeht; der vierte Punkt schließlich ist die Tatsache, dass der einzelne Dichter den Mythos nicht scha ff t, sondern ihn »nur« deutet in einer fortlaufenden Arbeit am Mythos – um den Titel des für die jüngste Mythos-Konjunktur bahnbrechenden Buches von Hans Blumenberg (1979) zu zitieren. In seiner 1848/49 entstandenen Schrift Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage hat Wagner den Mythos auf den Spuren Herders und der Romantik als Inbegri ff der »Volksanschauung« (GS II, 123) bestimmt. Er entwickelt hier eine (natürlich längst widerlegte) mythologische Konstruktion in Anlehnung an Karl Wilhelm Göttlings Buch Nibelungen und Gibelinen (1816) und Franz Joseph Mones
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