Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
musikalisches Pendant wird im Ring die variierte Wiederholung der Leitmotive sein, die alle Situationen auf bestimmte Urtypen zurückführt und so in einen zyklischen Zusammenhang aus der geschichtlich-linearen in die Zeitform des Mythos übersetzt.
In Oper und Drama beschreibt Wagner die Gegenwart, deren Stigmata Naturzerstörung, nihilistische Machtbesessenheit, Korruption der menschlichen Beziehungen durch die Herrschaft des Kapitals, Abstraktheit und Anonymität des Staates und der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, als ein dem Mythos entfremdetes Zeitalter. Im Ring des Nibelungen hat Wagner den Mythos in seiner reinen Form – eben das noch nicht entfremdete mythische Weltalter – zu Beginn des Rheingold noch einmal beschworen: in der musikalischen Kosmogonie des Vorspiels und der Rheintöchter-Szene. Mit Alberichs Liebes fl uch und Raub des Rheingolds bricht das mythische – das wahrhaft Goldene – Zeitalter in den status corruptionis auseinander, der erst mit dem Schluss der Götterdämmerung aufgehoben und in einen Zustand neuer mythischer Integrität verwandelt wird.
Der entgötterte, von Wissenschaft, Politik und Historie dominierte prosaische Weltzustand der Moderne lässt sich, so Wagner in Oper und Drama , nicht mehr nach Maßgabe der »antiken Kunstform« zusammendrängen. Die ihm korrespondierende Kunstform ist daher nicht die von der verdichteten Gestalt des Mythos geprägte Tragödie, sondern der Roman mit seiner o ff enen Struktur. Die herrschende Form eines neuen Zeitalters aber soll das musikalische Drama sein, das die historischen Erfahrungen der Moderne, wie sie vor allem vom Roman künstlerisch widergespiegelt werden, im Bilde des Mythos in sich aufnimmt. Wenn »der Mythos Anfang und Ende der Geschichte« ist, so in dem Sinne, dass der »Gang dieser Entwickelung […] nicht eine Rückkehr, sondern ein Fortschritt bis zum Gewinn der höchsten menschlichen Fähigkeit ist«. In dem »durch die Geschichte […] gerechtfertigten Mythos« – wie in dem durch den Roman ›gerechtfertigten‹ musikalischen Drama – werde »erst das wirklich verständliche Bild des Lebens gewonnen« (GS IV, 91). Das geschieht programmatisch im Ring des Nibelungen , der in der Gestalt der germanischen Götterwelt ein symbolisches Bild des in seiner komplexen Struktur vom Roman widergespiegelten modern-prosaischen Zeitalters bietet. Wie die Geschichte hier im Mythos aufgehoben wird, so soll sich das »Drama der Zukunft« als in symbolischer Verdichtung aufgehobener Roman legitimieren.
Nietzsche hat in der vierten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen : Richard Wagner in Bayreuth (1876) Wagner als »Gegen-Alexander« bezeichnet, der den gelösten gordischen Knoten der Kultur wieder bindet, ihre zer fl atternden Tendenzen durch die »adstringirende Kraft« seiner Kunst erneut zusammenfügt – entsprechend der ›verdichtenden‹ und ›vereinfachenden‹ Tendenz des Mythos, die Wagner selbst im zweiten Teil von Oper und Drama beschrieben hat. Den »Vereinfacher der Welt« nennt Nietzsche Wagner in diesem (durchaus positiven) Sinne (SW I, 447). Ein anderer Aspekt von Wagners Darstellung des Mythos ist Nietzsche aber ebenso wesentlich: »dass er in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Begri ff en denkt, das heisst, dass er mythisch denkt, so wie immer das Volk gedacht hat. Dem Mythus liegt nicht ein Gedanke zugrunde, wie die Kinder einer verkünstelten Cultur vermeinen, sondern er ist selber ein Denken; er theilt eine Vorstellung von der Welt mit, aber in der Abfolge von Vorgängen, Handlungen und Leiden. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begri ff liche Form des Gedankens.« (SW I, 485) Dieses mythische Gedankensystem bedarf aber einer anderen Sprache als das begri ff liche System. »Wagner zwang deshalb die Sprache in einen Urzustand zurück, wo sie fast noch Nichts in Begri ff en denkt, wo sie noch selber Dichtung, Bild und Gefühl ist« (SW I, 486). Das ist der Sinn des sprachlichen Archaismus in Wagners Opus magnum: der Ring- Tetralogie.
Mythos und Moderne – Der Ring des Nibelungen
Die Entstehungsgeschichte von Wagners Haupt- und Lebenswerk Der Ring des Nibelungen erstreckt sich über fast drei Jahrzehnte. Im Spätsommer 1848 zeichnet Wagner seine Studie Die Wibelungen auf, die eine spekulative Verbindung zwischen dem Nibelungenmythos und der Geschichte Kaiser Barbarossas herstellt. (Eine geplante Dramatisierung derselben – WWV 76 – gibt er schließlich
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