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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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»absolut Musikalische« hinaus, »um in einer Sprache zu reden, die […], einem rein musikalischen Zusammenhange unangehörig, nur durch das Band einer dichterischen Absicht verbunden ist, die mit dichterischer Deutlichkeit in der Musik aber eben nicht ausgesprochen werden konnte« (GS III, 279).
    Diese vermeintliche Selbstaufhebung der absoluten Musik innerhalb ihrer eigenen Grenzen fi ndet nach Wagner – wie schon erwähnt – ihren monumentalen symbolischen Ausdruck in der Wortwerdung der Symphonie am Ende der Neunten . Sie ist die Brücke von der absoluten Musik zum musikalischen Drama. »Das Entscheidendste, was der Meister in seinem Hauptwerke uns endlich aber kundthut, ist die von ihm als Musiker gefühlte Nothwendigkeit, sich in die Arme des Dichters zu werfen, um den Akt der Zeugung der wahren unfehlbar wirklichen und erlösenden Melodie zu vollbringen.« (GS III, 312) Die Musik ist das gebärende Element, die Dichtung das zeugende. Im Rahmen dieser Geschlechtsmetaphorik beschreibt Wagner die Strukturgesetze des musikalischen Dramas. Ohne die zeugende Kraft der Dichtung vermag die Musik »eben nicht zu gebären«, d. h. das musikalische Drama hervorzubringen (GS III, 314).
    Die Geschichte der Oper lehrt die »Unfähigkeit der Musik, selbst wirklich Drama zu werden, nämlich, das wirkliche, nicht bloß für sie zugeschnittene, Drama in sich aufgehen zu lassen; wogegen sie vernünftiger Weise in diesem wirklichen Drama aufzugehen hat« (GS III, 263). Das ist die Quintessenz des ersten Teils von Oper und Drama. Die Vorherrschaft der »absoluten Musik« habe in der Oper zu einer Zersplitterung der dramatischen Form geführt (Nummernoper!), deren Einheit indessen von der Poetik des Schauspiels seit Aristoteles gefordert worden ist. Die »Verwirklichung der vollendeten einheitlichen Form«, die als »bindender Zusammenhang« der Teile das ganze Drama umgreift, sei nur zu leisten, wenn der Musiker dem Dichter die Hand reicht. In dieser dramaturgischen Überzeugung gründet Wagners Leitmotivsystem, das als dichtes Gewebe alle Elemente der dramatischen Handlung zu einem Verweisungsganzen zusammenziehen soll.
    Das poetische Modell der »einheitvollen Form« des musikalischen Dramas (GS IV, 34) ist für Wagner die griechische Tragödie. Der Weg zum Drama der Zukunft stellt sich gewissermaßen als Kreisbahn dar: durch die Erfahrung des mittelalterlichen Theaters und des aus ihm hervorwachsenden englischen und spanischen Schauspiels (Shakespeares und Calderóns) hat die dramatische Form sich mehr und mehr von der »antiken Kunstform« (GS IV, 27 u. ö.), der griechischen Tragödie entfernt und nähert sich ihr eben dadurch doch wiederum von der anderen Seite. Dieses Bild erhellt die historisch-dramaturgische Konstruktion des zweiten und dritten Teils von Oper und Drama . Wagners Theorie des Schauspiels geht von der These eines zweifachen Ursprungs des modernen Dramas aus. Die eine Quelle ist das griechische Drama, die andere der mittelalterliche Roman, aus dem als »höchste Blüthe« die Schauspiele Shakespeares hervorgegangen sind (GS IV, 6) – was nicht im genetischen, sondern im Sinne einer Strukturverwandtschaft gemeint ist.
    Geht der Ein fl uss der griechischen Tragödie auf das moderne Theater Wagner zufolge nur auf einen Akt theoretischer Willkür zurück, ist es ihm lediglich durch antikisierende Re fl exion – deren ein fl ussreichstes Produkt die klassizistische französische Tragödie gewesen ist – als fremdartiges Reis aufgepfropft worden, so bildet der Roman den »natürlichen, unserer geschichtlichen Entwickelung eigenthümlichen« Keim unserer Poesie (GS IV, 6). Aufgabe des Dramas muss es also sein, sich den Strukturgesetzen des Romans nicht wie die antikisierende Tragödie schro ff entgegenzusetzen, sondern ihn durch Konzentration, »Verdichtung« (GS IV, 80 u. ö.) in sich aufzuheben. Wie das zu geschehen hat, lässt sich am Beispiel von Wagners eigenen musikalischen Dramen Tristan und Parsifal in ihrem Verhältnis zu den sto ff reichen mittelalterlichen Romanvorlagen ablesen, die in den drei Akten jeweils in einer dramatischen Kernsituation zusammengefasst werden. Unverkennbar setzt der Geschichtsteleologe Wagner der Entwicklung des Dramas das Ziel der klassisch-geschlossenen Form. Aus diesem Grunde ist nach seiner Überzeugung (die er im Alter freilich gänzlich über Bord geworfen hat) selbst das Shakespearesche Drama in seiner episch-romanhaften Handlungsvielfalt von der vollkommenen Gestalt

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