Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Nibelungensage, der »Stammsage des fränkischen Königsgeschlechts« (GS II, 119), und verdichtet sich in der mythischen Gestalt Siegfrieds, die als Urtypus in den deutschen Königen und Kaisern wiederkehre, sowie im Hort der Nibelungen als dem »Inbegri ff der Herrschergewalt« (GS II, 120). Überall begreift Wagner also die Geschichte als Vollzug mythischer Ereignismuster, die sich wie Naturerscheinungen zyklisch wiederholen. Der Urmythos entsteht denn auch aus der unmittelbaren Naturanschauung: »Den ersten Eindruck empfängt der Mensch von der ihn umgebenden Natur, und keine Erscheinung in ihr wird von Anfang an so mächtig auf ihn gewirkt haben, als diejenige, welche ihm die Bedingung des Vorhandenseins oder doch Erkennens alles in der Schöpfung Enthaltenen auszumachen schien: das ist das Licht, der Tag, die Sonne . Dank, und endlich Anbetung, mußte diesem Elemente sich zunächst zuwenden, um so mehr als sein Gegensatz, die Finsterniß, die Nacht, unerfreulich, daher unfreundlich und grauenerregend erschien. Ging dem Menschen nun alles Erfreuende und Belebende vom Lichte aus, so konnte es ihm auch als der Grund des Daseins selbst gelten: es ward das Erzeugende, der Vater, der Gott; das Hervorbrechen des Tages aus der Nacht erschien ihm endlich als der Sieg des Lichtes über die Finsterniß, der Wärme über die Kälte u.s.w., und an dieser Vorstellung mag sich zunächst ein sittliches Bewußtsein des Menschen ausgebildet und zu dem Innewerden des Nützlichen und Schädlichen, des Freundlichen und Feindlichen, des Guten und Bösen gesteigert haben. – So weit ist jedenfalls dieser erste Natureindruck als gemeinschaftliche Grundlage der Religion aller Völker zu betrachten.« (GS II, 130 f.)
Diese Ausführungen über Licht, Tag und Sonne als mythische Urphänomene gemahnen bereits an den Lichthymnus der von Siegfried erweckten Brünnhilde: »Heil dir Sonne! / Heil dir Licht! / Heil dir leuchtender Tag!«; und das Wort vom »Sieg des Lichtes über die Finsterniß« weist voraus auf die Rühmung Siegfrieds als »siegendes Licht« und »Wecker des Lebens« (GS VI, 166 f.). Siegfried ist das Licht! In der »ältesten Bedeutung des Mythus« – Wagner verwendet hier noch die lateinische Endung des Begri ff s –, ehe dieser sich ins »menschlichere Gewand des Urheldenthumes« kleidete, haben wir, so Wagner selbst, »Siegfried als Licht- oder Sonnengott zu erkennen« (GS II, 119). In seiner Ursprungsgestalt ist er also der »individualisirte Licht- oder Sonnengott, wie er das Ungethüm der chaotischen Urnacht besiegt und erlegt: – dieß ist die ursprüngliche Bedeutung von Siegfried’s Drachenkampf, einem Kampfe, wie ihn Apollon gegen den Drachen Python stritt.« (GS II, 131) Wagner antizipiert hier bereits eine Erkenntnis der modernen Mythosforschung: dass im Heldenmythos und seinem Angelpunkt: dem Drachenkampf, der kosmogonische Mythos, der Urkampf zwischen Schöpfer-Gott und Chaos-Ungeheuer, reaktualisiert wird.
Dem Sieg des Lichts über die Finsternis folgt freilich im Zyklus der Tageszeiten die Überwindung des Lichts durch die Finsternis: Siegfrieds Ermordung – die von den Mächten des Lichts wiederum vergolten wird: »Wie nun der Tag endlich doch der Nacht wieder erliegt, wie der Sommer endlich doch dem Winter wieder weichen muß, ist aber Siegfried endlich auch wieder erlegt worden; der Gott ward also Mensch, und als ein dahingeschiedener Mensch erfüllt er unser Gemüth mit neuer, gesteigerter Theilnahme, indem er, als ein Opfer seiner uns beseligenden That, namentlich auch das sittliche Motiv der Rache, d. h. das Verlangen nach Vergeltung seines Todes an seinem Mörder, somit nach Erneuerung seiner That, erregt. Der uralte Kampf wird daher von uns fortgesetzt, und sein wechselvoller Erfolg ist gerade derselbe, wie der beständig wiederkehrende Wechsel des Tages und der Nacht, des Sommers und des Winters, – endlich des menschlichen Geschlechtes selbst, welches von Leben zu Tod, von Sieg zu Niederlage, von Freude zu Leid sich fort und fort bewegt, und so in ständiger Verjüngung das ewige Wesen des Menschen und der Natur an sich und durch sich thatvoll sich zum Bewußtsein bringt.« (II, 131 f.) Wagners Denkform ist eine strukturell mythische; auch die Geschichte stellt sich ihm in diametralem Gegensatz zur historisch-linearen Betrachtungsweise – und damit weist er hellsichtig auf die moderne Mythosforschung voraus – als zyklische Wiederholung prototypischer Ereignismuster dar. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher