Riesling zum Abschied
hektisch, die annähernd tausend Studenten traten sich nicht auf die |105| Füße. Und noch eine andere Beobachtung hatte sie gemacht, und nicht nur hier. Der Umgang mit dem Wein veränderte die Menschen. Je näher am Boden, je näher am Regen, an der Sonne, dem Wind, desto ausgeglichener schienen sie ihr, eingebunden in den Zyklus des Jahres. Je weiter weg vom Boden und je näher an Macht und Geld, desto schneller drehte sich das Hamsterrad, die Umschlagsgeschwindigkeit der Weine in der Lagerhalle. Darüber hatte sie auch mit Thomas’ Vater gesprochen. Ein Jahr bedeutete weit mehr als eine Jahresbilanz. Die Jahreszeiten hatten einen Sinn. Wer mit dem Wein arbeitete, konnte etwas schaffen, weit mehr als nur Geld. Den Reibach machten die Händler und weniger die Produzenten.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, sie trödelte, dabei musste sie sich beeilen, um rechtzeitig zu ihrer Vorlesung zu kommen. Heute standen Ökologie und Umweltschutz auf dem Plan.
Anders als sonst herrschte Stille im Hörsaal Nummer zwanzig. Das würde ihre Kräfte schonen. Während der Begrüßung suchte sie nach Thomas Achenbach, aber sie sah nur eine amorphe Masse junger Leute vor sich. Die junge Studentin, mit der er zusammenwohnte und von der sie den Nachnamen vergessen hatte, war auch nicht zu entdecken. Johanna musste sich auf ihren Vortrag konzentrieren und den Faden aufnehmen.
Kaum hatte sie begonnen, bemerkte sie eine allgemeine Bewegung unter den Anwesenden. Die bisher ihr zugewandten Blicke wanderten nach rechts der Tür zu, und so war auch sie gezwungen, den Blick zu wenden. Wer dort die Aufmerksamkeit auf sich zog, war Thomas Achenbach. Für einen Moment wogte ein Gemurmel auf, was dann sofort in sich zusammenfiel wie ein verbranntes Blatt Papier.
Ungerührt von den achtzig oder mehr teils scheuen, teils fragenden Blicken steuerte der junge Mann nach einem kurzen Nicken auf einen Platz in der Mitte der ansteigenden Reihen |106| zu, wo Johanna erst jetzt seine Mitbewohnerin entdeckte. Sein Gang wirkte hölzern, seine Körperhaltung angespannt, sein Gesicht versteinert. Er trotzte der Welle von Emotionen, die ihm aus dem Hörsaal entgegenkamen und über ihm zusammenschlugen. Es gefiel Johanna, dass er trotzdem den Kopf oben behielt. Wenn auch der Vater so gestrickt ist, dachte Johanna, dann hat es keine Frau mit ihnen leicht. Aber das war das Problem dieser Galeristin und nicht ihres.
Die Vorlesung nahm kein Ende, und nach anderthalb Stunden fühlte Johanna sich völlig ausgelaugt, die letzte halbe Stunde war anstrengender gewesen als jede andere Vorlesung zuvor. Sie war extrem konzentriert geblieben, sie hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit mit ihrer bewährten Methode auf ihren Stoff zu ziehen und dort zu halten. Erschöpft sank sie auf den Stuhl neben der Tafel und sah den Studenten zu, die tuschelnd ihre Papiere zusammenräumten und sich merklich von Manuel Sterns Mitbewohnern fernhielten. Wie mochte es dem jungen Mann im Gefängnis ergehen?
Leise grüßend verließen die Studenten den Raum, Johanna beließ es bei einem freundlichen Kopfnicken und wartete auf Thomas. Sie war gespannt, wie sich das Drama aus dem Mund der Beteiligten anhörte.
»Manuel ist unschuldig«, sagte Thomas. Seine Empörung über die Verhaftung war mit Händen zu greifen. »Man muss was tun.«
»Woher wissen Sie, dass er unschuldig ist? Sie waren zur fraglichen Zeit weit weg.«
»Ich weiß es eben.« War Thomas Achenbachs Haltung nun Überzeugung oder Trotz? »Manuel greift nicht zu Gewalt. Der frisst alles in sich rein.«
»Solche Menschen rasten bei Überforderung schon mal aus ...«
Thomas ließ sich nicht beeindrucken. »Er hat bei uns Pheromon-Fallen eingeführt. Es ist eine Verwirrmethode, |107| die die Fortpflanzung der Schädlinge stört, statt sie umzubringen.«
Johanna bekannte, dass sie nicht wusste, wovon die Rede war.
»Ampullen mit Sexuallockstoff werden in den Rebzeilen aufgehängt, um die männlichen Traubenwickler zu verwirren, sie finden die Weibchen nicht mehr.«
Dieser Gedanke amüsierte Johanna. Vielleicht hatte der Hagestolz auch daran geschnuppert.
»Sie glauben tatsächlich«, fuhr sie ernst fort, »dass man davon auf einen Menschen schließen kann?«
»Alles im Leben ist eine Frage der Haltung.« So wie Thomas es sagte, klang es für sie zumindest glaubwürdig.
»Und Sie meinen, das würde einen Untersuchungsrichter überzeugen oder gar die Mordkommission?«
»Die hat ihre Arbeit beendet. Sie hat einen
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