Riesling zum Abschied
nichts und wieder nichts«, so die Sekretärin. »So sind sie heute.«
Was das
so
bedeutete und wer
sie
waren, führte die Sekretärin nicht weiter aus.
Das alles brachte Johanna sehr drastisch die Ereignisse vom Neusiedler See zurück, in die sie und Carl vor einigen Jahren hineingeraten waren. Die Gespenster der Vergangenheit hatten sich nicht weit entfernt. Auch damals war eine junge Frau ermordet worden.
Weshalb musste sie auf Thomas Achenbach und Manuel Stern treffen? Weshalb lernte sie die beiden gerade in dieser heiklen Situation kennen? Bekam man im Leben immer wieder das vor die Nase gesetzt, was man noch nicht bewältigt |103| hatte? An dieser Stelle unterbrach sie ihre Gedanken. Sie spürte das Herannahen eines Gewitters.
Seit sie das Weingut der Achenbachs verlassen hatte, war sie unruhig. Sie fühlte sich beklommen und gefordert – nur wozu? Und von wem? Damals, in Österreich, hatte sie von Anfang an auf der falschen Seite gestanden. Das durfte ihr kein zweites Mal passieren. Gleichzeitig war sie froh, am Nachmittag wieder auf ihre Rheinseite zurückzukehren, auch wenn die Rheingauer sie für die schlechtere von beiden hielten. In Bingen war der Mord an Alexandra Lehmann kein Thema.
Sie schaute auf ihre kleine goldene Uhr. Es war noch nicht an der Zeit, hinüber in den Hörsaal zu gehen. Sie legte ihre Notizen vom Besuch auf dem Weingut der Achenbachs neben das Laptop und begann mit der Ausarbeitung ihres Konzepts für ein nachhaltiges Energiemanagement. Das Erste, was sie strich, war der Begriff »nachhaltig«. Man sollte ihn zum Unwort des Jahres erklären. Jeder nutzte die Worthülse in der Politik, in der Wirtschaft und im Umweltbereich und sogar bei den Banken. Der Begriff war Johanna zuerst in der Waldwirtschaft begegnet, wo es darum ging, nur reife Stämme zu fällen, die nachwachsen konnten, um den Wald als Ganzes zu erhalten und Erosion zu verhindern.
Ich werde mein Konzept ganz einfach einen »Vorschlag zur Energieeinsparung auf Weingütern« nennen, sagte sie sich. Das ist klar und einfach, und mit solchen Menschen, denen das etwas bedeutet, will ich zusammenarbeiten. Der Rest soll sich zum Teufel scheren, und das möglichst nachhaltig. So ist es immer. Johanna starrte vor sich hin. Wieso muss ich mich immer erst schwarz ärgern, bevor ich auf eine Idee komme?
Sie dachte an den Abend, an dem Manuel Stern für sie Klavier gespielt hatte. Es war schön gewesen, harmonisch und friedlich, das Kaminzimmer hatte eine gute Akustik, vielleicht weil der helle Raum so hoch und leer war und sich dort nur Menschen aufgehalten hatten, zwischen denen |104| Klarheit herrschte. Nein. Manuel war kein Mörder, niemals. Aber was wusste sie von ihm, von Alexandra und von dem Verhältnis der beiden? Hatte möglicherweise der Mord erst für Klarheit zwischen ihnen gesorgt? O je, so ein Gedanke durfte nicht einmal im Dunkeln in den eigenen vier Wänden gedacht werden. War er vielleicht doch ...?
Ich werde mich nicht einmischen, ich habe damit nichts zu tun, es geht mich nichts an, sagte sie sich, klappte missmutig den Deckel ihres Laptops herunter, räumte den Schreibtisch auf und verließ das stille alte Gebäude. Um in die Hochschule zu kommen, musste sie ein Stück neben dem Bahndamm herlaufen, dann kam die Unterführung mit dem Geisenheimgraffiti – einem Glatzkopf, den der übersteigerte Weingenuss zu einem glupschäugigen Trinker gemacht hatte. Nur was sollte der Rheingau-Dom hinter ihm? Sangen dort bereits die Engel, oder würde man den Glatzkopf dort eines Tages aufbahren?
Jedes Mal, wenn Johanna durch die Unterführung ging, spürte sie ein unwillkürliches Lächeln. Doch heute erschrak sie fürchterlich, als ein Zug über sie hinwegdonnerte, und sie beeilte sich, die Stufen wieder hinaufzukommen. Erleichtert erreichte sie linker Hand den Park und blieb stehen. Wenn sie hier oder auch im Park um die Villa Monrepos die Zeit zwischen den Vorlesungen vertrödelte, überkam auch sie Ruhe. Der Gründer der Forschungsanstalt, Eduard von Lade, hatte 1861 seinem Ruhesitz diesen Namen gegeben. Zehn Jahre darauf wurde auf sein Bemühen hin die Königlich Preußische Lehranstalt für Obst- und Weinbau gegründet, der Vorläufer der FH.
Lag es an den Rosen, den blühenden Büschen oder dem Mammutbaum, dass Johanna die Schultern sinken ließ? Nach dem Mittagessen würde sie hinübergehen und sich in eine überwucherte Ecke zurückziehen, wo sie Ruhe fand. Aber auch der Campus war weder laut noch
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