Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
einziges Mal zu lesen, und alles Wissen blieb haften. Wenn man ihn bat, ein Gedicht auswendig zu lernen, betete er gleich das ganze Werk aus dem Gedächtnis herunter. Ein echtes Genie. Dann aber, so in der Achten, begann er sich zu verändern. Er wurde faul, beleidigte die Lehrer, schlief im Unterricht – bis er irgendwann gar nicht mehr erschien. Es muss furchtbar gewesen sein, Henrys grandiosen Absturz mitanzusehen. Auf einen schlechten Umgang, wie Madame Paulin, unsere Schulpsychologin, es immer ausdrückt, konnte man es nicht schieben, weil mein Bruder überhaupt keinen Umgang mit irgendwem hatte. Nein, es war eher so, dass er den Glauben verloren hatte.
Am Anfang des Schuljahrs erzählte mir Monsieur Hassan, mein Mathelehrer, wie er Henry als Schüler erlebt hatte. Seiner Meinung nach litt mein Bruder unter einer schweren Depression. Die Art von Krankheit, die einen ganz plötzlich überfällt, wie aus heiterem Himmel.
Ich sprach mit Yéyé auf dem Nachhauseweg darüber.
»Weißt du, was das ist, eine Depression?«
»Das haben nur die Reichen.«
In unserem Viertel spricht man nicht von Depression, wenn’s einem schlechtgeht. Man sagt, das Leben ist hart, aber es wird schon irgendwie weitergehen. Und wenn’snicht besser wird, dann fängt man an, Drogen zu nehmen. Es gibt eben nicht für alle dieselben Medikamente. Und auch nicht dieselben Ärzte. Henry ist kein Einzelfall. Man sieht sie auf der Straße. Sie gehen morgens aus dem Haus und sind den ganzen Tag unterwegs. Wie Zombies sehen sie aus. Mein Kumpel Brice meint, der ganze Beton hier würde sie kirre machen. Je mehr Mauern und scheußliche Gebäude man sieht, desto mehr verschmutzt das Gehirn. Seitdem schaue ich oft in den Himmel, wenn ich draußen bin.
Und wenn es regnet, schließe ich die Augen.
Mein späteres Leben stelle ich mir so vor …
Es ist in eine Spritze eingeschlossen, innen drin bin ich und möchte heraus, ich klopfe gegen das Glas, ich schreie, aber niemand hört mich.
Ein Mann hält die Spritze.
Manchmal spritzt er ein bisschen was von mir in seine Venen, und da löse ich mich sanft auf. Im Innern der Spritze ist immer weniger Platz, und ich weiß, dass das wenige, was noch übrig ist, bald aufgebraucht sein wird …
18 von 20 Punkten. Das hat die Lehrerin offenbar echt umgehauen.
Man muss allerdings wissen, dass ich eine ziemlich ausufernde Phantasie habe. Wahnsinn, das sagen alle. Ich kann mir alles vorstellen, wenn ich mich anstrenge. Manchmal ist das gut. Wenn ich mir zum Beispiel vorstelle, dass Mélanie Renoir meine Frau ist, spinne ich zwischen uns gleich eine wunderschöne Liebesgeschichte.Aber Phantasie kann einem auch das Herz schwer werden lassen. Heute Morgen, seit meine Mutter plötzlich weg ist, schwirrt mir der Kopf.
Es war wohl am besten, wenn ich mich so unauffällig wie möglich verhielt, dachte ich, von wegen Polizei und so. Nichts einfacher als das. Die Cité ist ein Labyrinth, und wer sie so wie ich kennt, kann darin wandeln wie ein Geist. Zusammen mit meinen Kumpels spielen wir es oft, dieses Spiel, eine Art überdimensionales Verstecken. Es wird ein Areal festgelegt, zum Beispiel vom Elsa-Triolet-Turm bis zum Jacques-Prévert-Turm, und einer von uns muss die anderen suchen, die dort versteckt sind. Man darf sich überall verstecken, nur nicht in Wohnungen. Bis alle gefunden sind, das kann schon mal den ganzen Tag dauern.
Das beste Versteck der Welt hatte mal Freddy Tanquin entdeckt. Wir haben mindestens zwanzig Jahre lang nach ihm gesucht. Als wäre er unsichtbar geworden! Er hatte sich hinter Sandrine Viller versteckt – Sandrine wiegt an die siebenhundert Kilo, aber hinter ihr nachzugucken, da ist einfach keiner drauf gekommen.
Ich ging die Treppe bis in den Keller hinunter, ich wusste, dass eine der Mauern eingestürzt war und man nun einen Zugang zum Parkplatz des Einkaufszentrums hatte. Von dort aus wollte ich hinüber zum Malraux-Turm, wo sich die meisten Drogies aufhielten, weil dort auch die meisten Dealer unterwegs waren. Ich musste an die Geschichte von den toten Süchtigen denken, die in den Kellernder Gebäude herumspukten. Der Boden war feucht, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass mich jemand verfolgte. Panisch rannte ich los. Als ich bei der eingestürzten Mauer ankam, drehte ich mich ruckartig um. Ich bin ja eher so ein Angsthase, trotzdem: Wenn schon, dann will ich wenigstens wissen, welches Phantom mich jagt.
Als ich das Parkhaus erreichte, wurde ich wieder etwas ruhiger, es
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