Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
wie mich blöd anzumachen. Aber man muss sich vorsehen – wenn Sie hier wohnten, würden Sie verstehen, was ich meine. Vor zwei Jahren, an einem Sommerabend, standen ein paar Kids vor dem Ravel-Turm. Sie unterhielten sich fröhlich, ohne irgendwen zu stören. Ein Anwohner aus der zweiten Etage beugte sich aus dem Fenster und rief ihnen zu, sie sollten leise sein. Sie hatten nicht den Eindruck, besonders laut zu sein, und unterhielten sich also weiter. Der Anwohner kam wieder ans Fenster und schlug auf einmal einen anderen Ton an, von wegen gleich rufe ich die Polizei und so. Die Jungs haben ihm zugerufen, er soll Leine ziehen, ohne zu ahnen, dass sie es mit einem fanatischen Sporttaucherzu tun hatten. Na ja, jedenfalls stand der Typ plötzlich mit einer Harpune vor ihnen, zielte auf einen der Jungs und traf ihn direkt in den Bauch. Der Junge starb vor den Augen seiner Freunde. Als die Polizei schließlich kam, hatte sie es leicht, den Mörder ausfindig zu machen – er war ja am anderen Ende der Schnur. Verrückte gibt es überall. Sie halten einen für Fische, für Wildschweine oder wer weiß wofür.
Deswegen wollte ich mit dem Alten auf seinem Balkon unter keinen Umständen weiter diskutieren und kletterte die Leiter schnurstracks auf der anderen Seite hinunter.
Kaum hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen, rannte ich weiter bis zum Malraux-Turm. Ich renne eigentlich immer. Ein geborener Sprinter. Als ich mit drei Jahren angefangen habe, Fußball zu spielen, ließ der Trainer die Neuen ein Probespiel machen. Danach kam er auf mich zu und meinte:
»Also, spielen kannst du nicht, aber rennen – du wirst Flügelstürmer.«
Wie ich entdeckt habe, dass ich richtig schnell laufen kann, ist eine eher unangenehme Geschichte.
Es war vor zwei Jahren. Meine Mutter hatte mich losgeschickt, um Brot zu besorgen. Als ich das Haus verließ, bemerkte ich einen Kerl, der mir ins Einkaufszentrum folgte, bis er mich schließlich einholte.
»He, Kleiner!«
Ich blieb wie angewurzelt stehen und blickte auf, in ein Gesicht, von dem einem nur übel werden konnte.
»Weißt du zufällig, wo ich einen Jungen hier finde, der Michel heißt?«
»Nein …«
Ich kannte keinen Michel, fragte aber trotzdem nach: »Michel wie?«
»Michel … öhm … ich weiß seinen Nachnamen nicht … So ein Großer …«
Klar, so ein Großer. Ich begriff gleich, dass der Typ mir einen Bären aufbinden wollte.
»Wie heißt du, Kleiner?«
Obwohl ich es nicht ausstehen kann, wenn man etwas anderes als Charly zu mir sagt, meinte ich: »Charles.«
Ich hatte plötzlich richtig Schiss und hasste mich dafür.
»Das ist ein hübscher Name … Charles … Ich heiße Patrick. Wollen wir zusammen was trinken gehen?«
»Meine Mutter wartet auf mich.«
»Nur fünf Minuten, ich bin mit dem Auto da.«
Ich spürte, wie mein Puls raste und mir das Herz bis zum Hals schlug. Patrick tätschelte mein Haar – und da gab ich Fersengeld. Rannte los wie ein Irrer. Niemand auf der ganzen Welt ist je schneller vom Einkaufszentrum zu unserem Turm gelaufen. Ich sah mich nicht um, ob mir der Typ überhaupt gefolgt war, es war ohnehin klar: Er hätte mich niemals erwischt. Ich raste die Treppen hoch, und als ich in unserer Wohnung ankam, wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Sechs Wochen lang brauchte ich, bis mein Atem sich wieder normalisiert hatte.
Beim Fußball oder beim Sportunterricht oder wenn ich vor meinen Kumpels angeben will und rennen soll, brauche ich nur an Patrick zu denken. Dann sehe ich in sein Gesicht und höre, wie er zu mir sagt: »Mein Auto steht gleich um die Ecke.«
Und schon schieße ich los, mit zweihundert Sachen, und breche alle Rekorde.
Der Malraux-Turm lag verlassen da.
Ich ließ mich auf die Stufen in der Eingangshalle fallen und wartete. Sonderlich gemütlich war es nicht. Es roch nach Pisse. Man hörte den Verkehr. Spürte Trostlosigkeit. Aber es gibt nun mal solche Ecken. Manchmal liegen sie nur zwei Straßen oder drei Blocks entfernt. Ich will mich nicht beschweren, mein Turm ist einer der ruhigsten im ganzen Viertel. Es ist zwar auch nicht der Club Med, aber die Umgebung ist nett, und die Leute sind cool. Meiner Mutter hätte es überhaupt nicht gepasst, dass ich mich hier herumtrieb, das wusste ich, aber ich wusste auch, dass sie ganz schön in der Tinte saß und ich keinen besseren Grund hätte haben können, zu sein, wo ich gerade war.
Kurze Zeit später tauchte ein Typ mit Besen auf, fegte ein wenig herum, und
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