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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
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irgendwie sagte mir eine innere Stimme, dass ich ihn ansprechen sollte.
    »Entschuldigen Sie, sind die anderen nicht da?«
    »Welche anderen?«
    »Also … die halt, die immer hier rumschwirren.«
    Er blickte sich total wichtig um. Nur um mich zu ärgern und mir zu zeigen, wie beknackt ich war, »die, die immer hier rumschwirren« zu sagen, wo doch in dem Augenblick, in dem ich redete, niemand da war.
    »Sie wissen doch, welche Typen ich meine.«
    »Bist du nicht ein wenig jung, um dich mit den Leuten abzugeben, von denen du sprichst … Musst du nicht zur Schule?«
    »Doch, schon … aber nicht heute … Eigentlich suche ich meinen Bruder – es ist wichtig.«
    »Wie heißt dein Bruder?«
    »Henry … Henry Traoré.«
    »Kenn ich nicht.«
    Seufzend stand ich auf und ging die drei Stufen hinunter, denn ich wollte mir weder anhören, dass ich verschwinden soll, noch meine kostbare Zeit mit Rumdiskutieren verschwenden.
    »Es ist zu früh.«
    Ich drehte mich um, der Typ fegte weiter, während er redete.
    »Wie?«
    »Es ist zu früh … Um diese Uhrzeit sind sie nie da, bestimmt, weil sie schlafen … Wie spät ist es eigentlich?«

Fünftes Kapitel

10 Uhr
     
     
    Da ich fast um die Ecke von meiner Schule war, beschloss ich, einen kurzen Abstecher dorthin zu machen. Zur ersten großen Pause läutet es um Viertel nach zehn, und normalerweise treffen wir uns alle hinten auf dem Hof, also dort, wo ich gleich vorbeikommen würde.
    Mein Schulweg trägt gewissermaßen autobiographische Züge. Damit meine ich, dass ich alle wichtigen Stationen meines Lebens passiere. Zuerst das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, die Frédéric-Chopin-Klinik. Ich glaube, jeder hier wurde in dieser Klinik geboren, aber ich denke trotzdem jedes Mal feierlich daran, wenn ich vorübergehe. Ich bin am 17. April 1998 zur Welt gekommen. Das war ein Freitag, ich habe mich erkundigt. Was schlimm sein muss, ist, an einem Montag geboren zu werden. Wie ich diesen Tag hasse! Nicht von wegen Schule oder so, aber irgendwie läuft das Leben an diesem Tag nur auf fünfzig Prozent. Mein Bruder Henry kam in Mali zur Welt, am 8. März 1991. Keine Ahnung, was das für ein Tag war. Meine Mutter wurde am 26. April 1966 in Mali geboren. Was das für ein Tag war, weiß ich leider auch nicht. Dabei frage ich sonst immer sofort nach. Erst, wiejemand heißt, dann, wann er geboren wurde. Warum mich das so brennend interessiert, versteht keiner. Aber es versteht ja auch keiner, dass ich es liebe, wenn mir jemand von irgendetwas berichtet, das mir zugestoßen ist, als ich noch ganz klein war und woran ich mich nicht erinnern kann. Ich höre auch gern Geschichten über meinen Bruder. Bevor er mit den Drogen anfing und so. Meine Mutter erzählt mir oft von früher, wenn wir in der Küche zusammensitzen, aber dann tut es ihr jedes Mal so weh, dass ich denke, ich lasse sie besser in Ruhe. Sie hat mir auch schon Fotos von sich als jungem Mädchen in Mali gezeigt, sie war verdammt schön. Anscheinend ist sie heute noch schön, zumindest sagen das andere, ich kann das nicht so beurteilen. Doch, es gibt Momente, in denen ich sie wirklich wunderschön finde, zum Beispiel beim Gehen. Sie sollten meiner Mutter mal beim Gehen zusehen, das würde Sie umhauen! Sie hält sich kerzengerade und schreitet mit erhobenem Kopf. Das nenne ich Klasse! Ich beobachte sie oft vom Fenster aus, wenn sie von der Arbeit kommt. Ich versuche sie zu imitieren, aber es gelingt mir nicht, bei mir wirkt das leider nicht besonders, sondern eher besonders dämlich. Meine Mutter geht übrigens auch auf Zehenspitzen. Zu Hause, meine ich, wenn sie barfuß läuft. Dabei ist sie so schon groß genug, aber nein, sie muss auch noch auf Zehenspitzen gehen.
    Was ich erzählen wollte, ist, dass ich weiß, wer Frédéric Chopin ist, der seinen Namen von dem Krankenhaus hat, in dem ich geboren wurde. Chopin war ein polnischerKomponist, der nach Frankreich gekommen und hier auch gestorben ist. Das weiß ich aus dem Unterricht, als unsere Lehrerin uns die
Nocturnes
vorspielte. Reine Klaviermusik! Und ich schwöre Ihnen: Chopin braucht kein anderes Instrument, um Sie aufzuwühlen. Etwas so Schönes hatte ich nie zuvor gehört. Es war, als ob man auf einem Boot einen Fluss hinabgleiten würde. Und der Fluss, das ist die Musik. Wenn ich die
Nocturnes
höre, denke ich an Mélanie Renoir, und dann wünschte ich, sie könnte diese Musik zusammen mit mir hören. Auf dem Boot und so. Chopin erinnert einen an das Schönste im

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