Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Anschließend führte sie uns zum Essen ins Restaurant des Einkaufszentrums aus und wirkte dann richtig glücklich, dass wir wieder zusammen waren. Ich hätte Henry ordentlich verdroschen, damit er mit seinem Blödsinn aufhört. Aber meine Mutterfreut sich immer so, wenn wir alle drei zusammen sind.
Der Satz der Frau klingt mir noch im Ohr: »Weißt du, wo Joséphine und Henry Traoré wohnen?«
Die Aufzugtüren schlossen sich hinter dem Trio. Ich entschied mich, wieder hinaufzugehen und nachzusehen, was los war. Ich nahm die Treppe. Das mache ich aus Gewohnheit so. Falls der Aufzug steckenbleibt. Oder um ein Wettrennen mit meinem Kumpel Jimmy Sanchez zu machen, der in der vierten Etage wohnt. Ich bin ein verdammt guter Sprinter, müssen Sie wissen, und wenn ich wirklich voll in Form bin, schaffe ich die Stufen schneller als der Aufzug. Mein Rekord ist die siebte Etage. Um vor dem Aufzug in der Siebten anzukommen, müssen Sie ein echt guter Sprinter sein, fragen Sie mal Jimmy Sanchez. Diesmal nahm ich zwar vier Stufen auf einmal, aber ich kam trotzdem später an. Es war schließlich acht Uhr morgens, und ich bin kein so früher Vogel. Ich habe die Tür zum Treppenhaus ein wenig aufgedrückt, und da sah ich meine Mutter, wie sie vor den Bullen und der Frau stand. Meine Mutter war schon angezogen, geschminkt und alles. Bestimmt wollte sie gerade zu den Rolands zum Arbeiten gehen. Normalerweise verlässt sie das Haus um zehn nach acht, um den Bus um zwanzig nach zu erwischen. Meine Mutter muss sich immer schminken. Klar, steht ihr ja auch gut, sie legt auch nicht zu viel auf, aber ich für meinen Teil fände das doch ziemlich blöde, wenn ich mir jeden Tag meines Lebens solch ein Zeug ins Gesicht klatschenmüsste. Frauen sind schon etwas Seltsames, finde ich. Die Frau bei den Polizisten war auch geschminkt, und ich stellte mir vor, wie meine Mutter und sie extra früher aufgestanden waren, um sich vollzukleistern, und dass sie sich nun mit ihrer Schminke gegenüberstanden. Die Frau zog ein Papier aus ihrer Tasche und las es meiner Mutter vor. Ich verstand nichts, aber es klang irgendwie nicht gut. Meine Mutter machte ein komisches Gesicht, sie schaute die Frau gar nicht an. Sie starrte auf das Papier. Dann sagte die Frau etwas. Meine Mutter hob den Kopf, und ich hatte den Eindruck, dass sie weinte. Es entstand eine ungemütliche Stille. Meine Mutter ging zurück in die Wohnung, und die Bullen und die Frau folgten ihr. Sie ließen die Tür nicht ins Schloss fallen, und daher dachte ich mir, sie kämen bestimmt gleich wieder heraus. Ich bemerkte, dass mir das Herz bis zum Hals schlug. Das passiert mir oft. Wenn Sie mich sehen, würden Sie denken, ich wäre kaltblütig wie eine Schlange. In Wirklichkeit bin ich eher ein Angsthase. Ich kann mich zwar ruhig und selbstsicher geben, aber das wirkt nur so. Und ich weiß, dass die meisten anderen Typen genauso sind.
Um zu überleben, muss man so tun, als wäre man absolut gefühllos.
Die Polizisten und die Frau kamen wieder heraus, mit meiner Mutter im Schlepptau. Sie machte noch immer dieses komische Gesicht, trug jetzt außerdem ihren Mantel, ihre Handtasche und eine Art Sporttasche. Ich weiß nicht mehr, woher diese Sporttasche stammt, ich glaube,sie ist von Henry, als er noch Leichtathletik machte. Sein Ding war der Sprint. Sie hätten ihn sehen sollen, er ging ab wie eine Rakete. Selbst ich wäre im Vergleich zu ihm ein lahmer Škoda gewesen. Aber die Drogen haben ihn total ausgebremst, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jedenfalls trug meine Mutter diese Tasche, die bis oben hin vollgestopft zu sein schien. Sie zog die Tür zu, und einer der Bullen holte den Aufzug. Es war seltsam, meine Mutter mit diesen Leuten da stehen zu sehen. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, irgendwie passte das nicht zusammen. Meine Mutter blickte geradeaus, so als ob nichts wäre. Sie kann das gut, so gucken, als ob nichts wäre. Sie könnte im Rathaus arbeiten und Politik machen. Aber wenn man sie kennt wie ich, sieht man sofort, ob sie sich Sorgen macht. Und während sie so dastand und auf den Fahrstuhl wartete, konnte sie so unbeteiligt dreinschauen, wie sie wollte – ich sah genau, dass sie sich verdammt große Sorgen machte.
Und dann drehte sie sich plötzlich zu mir um und sah mich an. Ich spürte, wie mir das Herz stehenblieb. Dabei hat mich meine Mutter bestimmt schon tausend Mal angeschaut. Ich glaube sogar, sie schaut mich ständig an. Manchmal sitzen wir ganz friedlich
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