Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Michael Holm die Schulbank gedrückt haben, komponierte er 1963 »im Stil von Miklos Rosza«, dem Ben Hur -Komponisten, ein Krippenspiel.
Die Atmosphäre im Hause Möbius glich mehr und mehr einem Künstlersalon. Beim Mittag- oder Abendessen wurde über Bertolt Brecht und Max Frisch, Kunst und Politik, Gott und die Welt diskutiert, und die Eltern fanden es überhaupt nicht verkehrt, dass ihre Söhne sich auch einmischten und engagierten. Peter Möbius hatte bei Gerhard Gollwitzer in Stuttgart studiert und gelernt, dass Kunst politisch ist, und am Abendbrottisch saßen nun auch immer häufiger Freunde von Peter und Gert, mit denen zusammen sie die Kommentare herausgaben, eine bei Bedarf erscheinende Gazette, in der Filme von Fellini und Godard rezensiert und der Algerien- und Vietnamkrieg kritisiert wurden, und kurz darauf das Neue Theater Nürnberg gründeten. Bierernst ging es dabei allerdings selten zu. Den drei Brüdern machte es mächtig Spaß, sich immer neue Wortspiele auszudenken, und »für einen guten Witz«, so Peter Möbius, »wurde alles aufs Spiel gesetzt«.
Auf den Partys wurden Platten von Miles Davis und Mr. Acker Bilk, dem Modern Jazz Quartet und Louis Armstrong aufgelegt, und eines Tages schleppte der Meisterschüler Blalla W. Hallmann die Elvis-Single Love Me Tender mit »der noch viel besseren B-Seite« Anyway You Want Me an.
Bei einem Familientreffen in Berlin im November 1963 hatte Rio schließlich sein Erweckungserlebnis, als er im stern schmökerte und an einem Artikel über vier Pilzköpfe aus Liverpool hängen blieb. Wieder daheim suchte er das Radio nach Sendern ab, die Musik spielten, die die Teenager damals ausrasten ließ, und hörte im amerikanischen Soldatensender AFN-Nuremberg plötzlich I Want To Hold Your Hand . Der Song traf ihn ins Mark: »Warum wusste ich sofort, dass das die Beatles sind?« Weil es der »Klang der Zukunft« war.
Er hatte nun ein Ziel vor Augen, wollte Gitarre spielen lernen und sich Leute suchen, um auch eine Band zu gründen. Also schnappte er sich Gerts CVJM-Klampfe, die nur noch aus dekorativen Gründen an der Staffelei lehnte – der Bohème-Atmosphäre zuliebe. Noten gab’s nicht, die Akkorde musste er sich schon selbst raushören.
In Berlin feierten Tante Lolo und Onkel Robert im Mai 1964 Silberhochzeit, und Rio nutzte die Gelegenheit, sich mit Beatles-Singles zu versorgen, die es daheim, bei Radio Bestle, noch immer nicht gab: Can’t Buy Me Love , Love Me Do und I Want To Hold Your Hand . So konnte er wenigstens mitreden, wenn im Pegnitzbad über Sex und Mädchen gequatscht wurde »und darüber, was in der aktuellen Musik gut und was verwerflich sei. Alles, was deutschsprachig war, bekam eine Sechs – vor allem der Erzfeind Roy Black. Elvis bekam ein Fragezeichen, wie vieles aus Amerika, England fast immer ›Gut‹ bis ›Sehr gut‹.«
Im Deutschunterricht hielt er ein Referat über »Die Beatmusik – Herkunft und Einflüsse«, in dem er den Bogen schlug von bayerischer Volksmusik über Country & Western bis zum Mersey-Sound. Und nachdem er Richard Lesters Beatles-Film A Hard Day’s Night im Kino gesehen hatte, war für ihn endgültig klar, was er werden wollte – Musiker und Komponist. So wie ein anderes Vorbild von ihm, Brian Wilson von den Beach Boys, der ebenfalls der kreative Kopf seiner Familie war und von seinen Brüdern beschützt wurde.
Dass sein Traum so schnell Wirklichkeit wurde, verdankte er nicht zuletzt Gert und Peter Möbius, die gemeinsam mit Dietmar Roberg, Peter Erlach und Blalla ein Wandertheater gegründet hatten, um die CSU wählende Landbevölkerung aufzuklären und zu bekehren. Rio wurde in das neue Projekt eingebunden und hatte gleich drei Genres zu bedienen: Bayerische Volksmusik für die Legende vom Heiligen Florian, der vom römischen Kaiser wegen seines Pazifismus hingerichtet worden war; Couplets für Graf Poccis Harlekinade Doktor, Tod und Teufel , die mit dem Sieg des »guten Armen« über den »bösen Reichen« endete; und Variationen von Beatles For Sale für das Martyrium der heiligen Katharina .
Damit war der Grundstein seiner Karriere gelegt, alles Weitere ergab sich dann fast wie von selbst.
06 Play With Fire
»Abgesehen von den unterschiedlichen deutschen Landschaften, in denen Rio als Zugereister, als Fremder aufgewachsen ist«, heißt es in dem arte -Filmporträt Ich bieg dir’n Regenbogen , waren es »Menschen wie Blalla, Roberg oder Peter Erlach, bei denen Rio die Konturen und Grenzen einer
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