Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
sensibel.
Wenn man ihn sah, dachte man sofort: Dies ist das zerstörte Kellergeschoß von etwas anderem, einem anderen Menschen als dem, der er geworden ist.
Ohne diese Sprengung wäre vielleicht etwas Besonderes aus ihm geworden.
Und man könnte ja sagen, daß er auch so etwas Besonderes war.
Meine Mutter pflegte ihm immer Kuchen und Saft auf der Treppe zu servieren, wenn er mit seinem Karren vorbeikam, ungefähr einmal in jedem Sommer. Und all unsere leeren Flaschen durfte er mitnehmen.
Der Sommer erschien uns nicht vollkommen, bevor er nicht dagewesen war.
In diesem Jahr, 1945 also, dauerte es lange, bis er kam, bis Mitte August.
Es war gerade der Tag, an dem Tante Clara den letzten Anruf von dem künftigen Minister bekam.
Das Gespräch war katastrophal und sehr ausgiebig.
Ich glaube, sie telefonierte so lange, daß der ehemalige Sägewerksvorarbeiter Isaksson vier Bienenstöcke leeren und säubern konnte, bevor es beendet war, und es nahm wirklich ein Ende mit Schrecken, denn Tante Clara legte den Hörer mit einem solchen Knall auf, daß die Metallgabeln dem Stoß mit knapper Not standhielten, und rannte hinaus, ganz rot vor Wut und Tränen.
Der künftige Minister hatte sich nämlich endlich entschlossen, auf das politische Risiko zu pfeifen, die Gefühle zu ihrem Recht kommen zu lassen und sich wieder zu verheiraten, nur nicht mit Tante Clara.
Es war einer von diesen trübwarmen Sommertagen, wo es die ganze Nacht geregnet hat und die Sonne gerade dabei ist, die Wolkendecke zu durchbrechen. Die Johannisbeeren hingen dicht in den Büschen in Isakssons Garten. Vereinzelte Krähen hüpften zaghaft um die phantasievoll konstruierten Vogelscheuchen herum.
Ein Zug fuhr unten auf der Eisenbahnlinie vorbei, mit einer endlosen Reihe von klappernden leeren Erzkippern, und Tante Clara fragte zwischen den Schluchzern, warum denn um Gottes willen so viele Güterwagen unterwegs seien.
Ein Hühnerhabicht segelte auf den Luftströmungen über dem großen Wald jenseits des Sees dahin. Ein Baum zitterte in einem fast unmerklichen Wind und schüttelte schwere Tropfen auf Tante Claras runde, schmale, sehr weibliche Schultern.
Die Hände vors Gesicht geschlagen und ganz allein auf der weiten Welt, ging sie den Weg entlang und weinte offen und verzweifelt vor aller Augen.
Der blinde Landstreicher Gottwold hatte inzwischen seinen Wagen in unseren Hof gezogen, ihn ordentlich hinter dem Zaun geparkt, und saß jetzt auf unserer Veranda, trank Kaffee, daß ihm der Kaffee nur so in den Bart sickerte, und aß von den besten Napoleonsplätzchen meiner Mutter. Die großen blauen Gläser seiner Blindenbrille leuchteten leer ins Zimmer hinein, und er konversierte ziemlich einsilbig mit ihr, über Wind und Wetter, Kreuzwege und Kahlschläge.
Das ging so zu, daß meine Mutter, klein, rundlich und freundlich in ihrem weißen Kattunkleid mit blauen Punkten, einen Monolog hielt, den Gottwold hin und wieder unterbrach mit einem
– Ja, so ist das eben
und dieses
»– Ja, so ist das eben« kam mit einer so schrecklichen Monotonie, daß man wirklich mit gutem Grund annehmen konnte, daß er sich überhaupt keine Gedanken darüber machte, was er sagte.
Und das wäre ganz schön dumm von ihm gewesen, denn die Monologe meiner Mutter können wirklich verdammt unterhaltend sein, wenn man genau darauf hört, was sie sagt.
Den einen Schuh hatte er so ungeschickt an den Elektroofen auf der Veranda gelehnt, daß es stark nach verbranntem Leder roch, aber das schien er überhaupt nicht zu bemerken.
Ich, der ich abwartend dabeistand, dem eintönigen Gespräch zuhörte und mich an seine Seite zu manövrieren versuchte, um hinter diese blaue Brille zu schielen und zu sehen, wie es dahinter aussah,
(waren die Augen noch da?)
entdeckte es als erster, und es dauerte lange, bis ich ihm klarmachen konnte, was sich da abspielte.
Er zog den Schuh, der stark verbrannt war, mit einer Miene zurück, als gehöre er gar nicht zu ihm.
In diesem Augenblick kam Tante Clara zur Tür herein, klein und zitternd und ganz weiß im Gesicht.
Draußen lärmten die Krähen in den Beeten.
Gottwold blickte einen Moment auf, ja er blickte tatsächlich auf, und richtete kurz seine leeren, blaugrünen Brillengläser auf Tante Clara.
Er glich ein wenig einem großen, zottigen Tier, das plötzlich auf eine Fährte gestoßen ist. Er bewegte seinen schweren Kopf witternd hin und her.
Und nun geschah das Unglaubliche: Tante Clara stürzte auf ihn
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