Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
trug, das beweisen sollte, daß er aus der Gemeinde Berg stammte, die jetzt zur Großgemeinde Hallstahammar gehört), am selben Tag, an dem Präsident Kennedy ermordet wurde. Meine Großmutter Tekla, die im Laufe der Zeit, nach einem weiteren Jahrzehnt, in demselben Altersheim ihren hundertsten Geburtstag feiern sollte, kannte ihn sehr gut und pflegte ihm hin und wieder eine Tüte zuzustecken, wenn er sabbernd im Aufenthaltsraum der Krankenstation saß.
– Gottwold ist ein so lieber und feiner Mensch. Weißt du, er ist ein bemerkenswerter Mann, ein bemerkenswerter junger Mann, pflegte Großmutter Tekla zu sagen und mich dabei mit ihren uralten weisen Augen anzublicken, die seit den Tagen der Pariser Kommune das Tageslicht gesehen hatten und die nichts mehr erstaunen konnte.
Ich glaube, Tekla wußte so manches über seine Rolle in der Familiengeschichte, denn sie zwinkerte ein wenig mit den Augen.
– Ein so feiner junger Mann, und so früh gestorben, sagte sie bei einem Telefongespräch an jenem Morgen, an dem Präsident Kennedy ermordet wurde, und klang dabei richtig empört.
– Präsident Kennedy?
– Wie bitte?
– Der amerikanische Präsident?
– Was ist mit ihm?
– Ich dachte, du hättest von ihm gesprochen?
– Ich rede von Gottwold, dem Blinden. Er ist tot.
Und das Paket im Gummituch? Das so sorgfältig eingewickelte? Frau Bergkloo, die Leiterin des Altersheims, öffnete all seine Sachen. Es zeigte sich, daß das Paket zwei umfangreiche Manuskripte enthielt, auf Papier von sehr unterschiedlichen Qualitäten und Formaten niedergeschrieben. Sie umfaßten beide etwa tausend Seiten, und offensichtlich handelte es sich um Romane.
Durch einen glücklichen Zufall bekam Frau Bergkloo an demselben Tag, an dem sie sie durchgesehen hatte und sie in den Heizkessel des Altersheims werfen wollte, Besuch von einem jungen Mann aus Västerås. Sein Name war Dr. Björn B. Håkansson, er war übrigens der jüngere Bruder des großen Dichters und kam im Auftrag des Landesantiquars Sven Ohlsson aus Västerås, als ein Glied in der großen västmanländischen Archivinventur jenes Jahres.
Frau Bergkloo kam auf die Idee, daß Gottwolds Manuskripte vielleicht etwas für ihn sein könnten, und er nahm sie unschlüssig in seinem Volkswagen mit.
Die beiden Manuskripte Gottwolds des Blinden werden im Landesarchiv von Västerås aufbewahrt, unter der Signatur ghg (Hallstahammar und Umgebung, Volkskunde) 23467992 A bzw. 23467992 B.
Ich habe die beiden umfangreichen Manuskripte gelesen. Mühsam, denn das Papier besteht zum Teil aus zerknitterten alten Tüten. Und der Speichelfaden mit dem Schnupftabak hat seine Spuren darauf hinterlassen. Es handelt sich um zwei Romane. Und sie sind etwas ganz Besonderes.
Der eine handelt von der Belagerung und der endgültigen Eroberung einer Stadt.
Das alles sehr lebendig, farbenfroh, reich an lebensnaher Phantasie. Ein Meisterwerk.
Der zweite, der eine Art Fortsetzungsroman darstellt und zumindest in seinen letzten Teilen wahrscheinlich während des glücklichen Herbstes und Winters mit Clara entstanden ist, handelt von einem der Helden dieser Belagerung, der auf einer langen Seereise heimwärts in immer neue Abenteuer und Bedrängnisse gerät. Auch dies ein Meisterwerk. Ungeheuer lebendig, mit enormen philosophischen und allegorischen Exkursen.
Zuletzt landet der Held in seinem Heimatort, den er ohne jede Hoffnung auf ein Wiedersehen verlassen hatte.
Das Haus seiner Gattin ist von Freiern belagert. Er besiegt sie alle durch List und ungeheure Kraft. Am Ende sind sie wieder vereint.
Der Name der Gattin ist Clara.
Ich glaube nicht, daß Tante Clara etwas von der Existenz dieser Romane geahnt hat.
Eine andere Welt
Ein frühlingshafter Nebelschleier lag in jenen Tagen über Berlin. Schwere, klebrige Kastanienzweige streiften über die Dächer der Doppeldecker. Die Luft war feucht und schwer von Düften und voller Unruhe.
Die Mampestube am Kurfürstendamm stellte die Tische und Stühle ihres Gartenlokals auf. Immer mehr hübsche Mädchen in langen Jeans waren auf den Straßen zu sehen.
Ein alter Droschkengaul fiel mitten im Verkehr am Tempelhofer Damm tot um. Ein Spatz saß auf seinem Kopf, als die Polizei in einem Streifenwagen kam, um zu sehen, was mit dem Kadaver geschehen sollte.
In den stillen, freundlichen Türkenvierteln von Kreuzberg begannen die Obst- und Gemüsehändler ihre Tische auf die Straßen zu stellen, so daß es dort bald aussah wie in
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