Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
zu, fast als wäre der verlauste, blinde Landstreicher ihr Vater, verbarg ihr weinendes Gesicht irgendwo an seiner schrecklichen Jacke, verschwand mit ihren sanften, zitternden Schultern irgendwo in seinem langen Bart.
Staunend und unseren Augen nicht trauend standen wir da und sahen Gottwolds große, etwas bläulichrote Hand Claras schmalen kleinen Kopf mit dem feinen braunen Haar streicheln, nur väterlich streicheln, immer wieder nur streicheln...
Meine Mutter und ich, wir begriffen beide, daß sich vor unseren Augen etwas Wunderbares, etwas Schreckliches und Wunderbares ereignete, und wir brachten kein Wort über die Lippen.
Das war Mitte August. Gegen Nachmittag. Ja, wenn ich genau darüber nachdenke, brach genau in diesem Moment die Sonne hervor. Sie ließ die Spuren des Regens verdunsten.
Clara folgte Gottwold noch an diesem Nachmittag. Sie ließ den größten Teil ihres Gepäcks zurück, denn auf Gottwolds Karren war ja nicht viel Platz.
Meine Mutter und ich konnten nicht viel dazu tun. Wir standen am Zaun, beide ganz ergriffen, und sahen sie in der Wegbiegung verschwinden, Hand in Hand. Der Karren klapperte und schlitterte im losen Schotter der Kurve.
– Willst du nicht wenigstens die Zahnbürste mitnehmen, rief meine Mutter, mit einer berechtigten Verzweiflung in der Stimme.
– Nein danke, rief Tante Clara zurück. Die brauche ich nicht.
Ich glaube, das war das erste Mal in meinem Leben, daß ich ein Beispiel dafür sah, wie grenzenlos die Freiheit eines Menschen sein kann, wenn man nur daran glaubt, und das hat mich viel gelehrt.
Mein Vater wurde, um die Wahrheit zu sagen, ziemlich wütend, als er gegen Abend nach Hause kam. Er war in Västerås gewesen, um dringende Geschäfte zu erledigen.
– Um Gottes willen, du mußt sofort zu Isaksson laufen und den Ortspolizisten anrufen, sagte mein Vater, blaurot im Gesicht. Er neigt dazu, manche Dinge ernst zu nehmen, und das habe ich leider von ihm geerbt. (Wäre ich nur nach meiner Mutter geraten, dann wäre ich ein viel amüsanterer Schriftsteller geworden.)
Es war meiner Mutter überhaupt nicht eingefallen, daß man natürlich den Ortspolizisten anrufen sollte.
– Du mußt ihm eine genaue Personenbeschreibung geben. Von allen beiden, sagte mein Vater.
– Aber...
– Kein Aber, wer weiß, was da passieren kann.
– Aber es ist doch kein Verbrechen geschehen, sagte meine Mutter ruhig.
Er versank fast eine Stunde lang in eine tiefe metaphysische Grübelei, bevor er erkannte, daß weder Gottwold noch Tante Clara etwas getan hatten, das ein größeres Polizeiaufgebot mit Spürhunden und Streifenwagen rechtfertigen würde. Der Liebe zwischen erwachsenen Personen von offensichtlich verschiedenem Geschlecht legten auch in den vierziger Jahren die Gesetze keine Hindernisse in den Weg.
Und daran taten sie natürlich gut.
Sie waren in Surahammar gesehen worden. Etwa einen Monat darauf kursierten Gerüchte, sie hätten in einer Scheune in Söderbärke übernachtet. Sie wurden zu einer Legende, die in aller Munde war. Sie tauchten überall auf, grenzenlos glücklich, grenzenlos verliebt, Clara führte den Blinden durch den Herbstregen, über die schlammigen Wege, und sie übernachteten unter Bahnüberführungen und in Scheunen. Überall wurden sie mit einer eigentümlichen Würde aufgenommen, mit dieser tiefen Würde, die nur die totale, die vollkommene Liebe in den Menschen wecken kann. Ohne zu übertreiben, könnte man sagen, daß sie ein Licht über die ganze herbstliche Gegend warfen.
Leider waren Tante Claras Lungen ziemlich anfällig. Sie vertrug es nicht, im Winter unter Bahnüberführungen und in feuchten Scheunen zu schlafen. Sie erkrankte während der Schneeschmelze im März an Lungenentzündung und starb in der Kammer eines freundlichen Bauern in Haraker. Gottwold saß bis zuletzt bei ihr, er fing ihren letzten Blick in seinen blauen, unergründlichen Brillengläsern auf.
Ich glaube, sie ist vollkommen glücklich gestorben.
Und sie wurden zu einer Legende, die man sich noch heute an den Kaminfeuern in Västmanland erzählt, spät an den Winterabenden, wenn die letzten Fernsehprogramme des Tages zu Ende sind.
Das Märchen von Clara und Gottwold. Und Clara, das war wirklich meine Tante!
Gottwold überlebte sie um mehrere Jahrzehnte. Er starb in der Krankenstation des Altersheims von Nibble (die Gemeinde Hallstahammar konnte als einzige dazu gebracht werden, ihn aufzunehmen, weil er ein unleserliches Dokument bei sich
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