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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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Mutter.
    Ich muß eingeschlummert sein, ich muß fünf, zehn Minuten geschlafen haben. Als die starke Boeingmaschine auf ihren breiten Flügeln in einem turbulenten Sonnenuntergangswind zehntausend Meter über Preußen erzitterte, erwachte ich und merkte, daß mein Kopf im Schoß der fremden Dame ruhte. Offenbar mit großer Mühe balancierte sie in der einen Hand eine Tasse Tee und ein Stück Mürbekuchen, alles sehr vorsichtig, um mich nicht zu stören. Und endlich sah ich ihr Gesicht.
    Es war nicht schön. Aber auch keineswegs abstoßend. Über einer wohlgeformten Nase mit breiten, sensiblen Nasenflügeln wölbte sich eine breite, eine schöne Stirn, wie man sie fast nur bei großen Mathematikern und Philosophen findet. Ihr Mund mit den ungewöhnlich vollen, sinnlichen Lippen war von jenem feinen Netzwerk von Falten umgeben, das nur extrem kultivierte Menschen haben, die mit äußerst genauer Artikulation sprechen. Und diese kleinen Fältchen sagten mir, daß sie etwa in meinem Alter sein müßte, zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren.
    Und an der einen Schläfe, diskret unter einer Locke des rotbraunen Haares verborgen, zeichnete sich deutlich, als rote Erhebung auf der leicht sommersprossigen Stirn, eine Narbe ab, die ich aus irgendeinem Grund mit dem Schlag eines Gummiknüppels in Verbindung brachte.
    Sie ist also Studentin, oder vielleicht eher noch Hochschullehrerin in Berlin. Es ist die Spur eines Polizeiknüppels, dachte ich.
    In diesem Moment bemerkte ich ihre Augen, ihre wunderbaren Augen. Durch die leichten kleinen Wölbungen der Kontaktlinsen blickten mich mit wunderbarer Klarheit, mit blauer, nicht eisiger, eher zerstreuter Freundlichkeit, ruhig und durchdringend, die intelligentesten Augen an, die ich je gesehen habe.
    Diese Augen nahmen sich Zeit, es war nicht die geringste Spur von Angst darin, ihr Ausdruck erinnerte mich an den Blick eines feinen alten Botanikers, der auf einem abgelegenen Felsbord in den lappländischen Bergen endlich die seltene Carexart findet, die er schon seit langem dort vermutet hat.
    Die großen Nasenflügel weiteten sich ein wenig, es war ein Lachen in diesen Augen, aber auch etwas Ernstes, etwas, das mich aufforderte: ich solle die Welt verändern oder zumindest ihrer Veränderung nicht entgegenarbeiten, etwas, das mir sagte, daß diese Augen nicht nur mich wahrnahmen, sondern auch meinen Platz in der Geschichte, in der Wirklichkeit, im dialektischen Zusammenhang.
    Sie sahen mich an, sanft und klug, nicht wie ein fremdes Insekt, das einem an einem Sommertag mit gebrochenen Flügeln auf das Fensterbrett flattert, sondern wie etwas, das auch im Prinzip voll und ganz zu begreifen und aus seinen historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen zu erklären war.
    In diesem Augenblick, wurde mir schmerzhaft bewußt, daß mein Nacken auf der harten kleinen Armlehne zwischen unseren Sesseln ruhte und daß, während mein eines Ohr noch die milde Wärme der großen, mütterlichen Brust dieser Fremden einatmete, ja, wirklich: einatmete, mein anderes Ohr völlig zerknautscht wurde von dem Aschenbecher, den die Boeing Inc. in weiser Voraussicht in diese Armlehne eingebaut hatte. Die infernalischen Blechkanten waren nun gerade dabei, wie ein gieriger, eifersüchtiger junger Schäferhund an meinem Ohr herumzukauen.
    Ich richtete mich auf, machte im Sitzen eine leichte Verbeugung:
    – Verzeihung,
    und ließ mich an das runde Flugzeugfenster zurücksinken, benommen und glücklich, als sei ich nach einem großen und stürmischen Fest nach Hause gekommen.
    Die Dame antwortete mit einem verbindlichen Nicken, trank dann, von meinem mageren Gewicht befreit, ihren Tee aus, reichte der Stewardeß die Tasse zurück und begann in der großen geflochtenen Basttasche zu kramen, die die ganze Zeit über zu ihren Füßen gestanden hatte. Zum Vorschein kamen der Reihe nach
    Horkheimer-Adorno »Dialektik der Aufklärung«
    Elias Canetti »Die Blendung«
    Georg Lukács »Geschichte und Klassenbewußtsein«
    Und nach einer kurzen Unterbrechung, die dem entzückten Herumblättern, Abschmecken, Beriechen, Prüfen diente und dazu noch einem kleinen Lachen über etwas, das offenbar ganz oben auf einer rechten Seite in dem Roman des alten sephardischen Meisters Canetti stand, und nach einer weiteren Pause, um irgendwelche Nasentropfen in die große, empfindliche Nase zu inhalieren, folgten rasch hintereinander zwei kleine Bücher aus Carl Hansers berühmter gelber Reihe.
    Wolf Wondratschek »Früher

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