Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
einem grimmigen Lächeln des Wiedererkennens meinen misanthropischen Spaziergang fortsetzen ließen!
Es gehört zu meinem Schicksal, meinem Charakter, meiner historischen Situation, daß ich, jämmerlicher Spießbürger, der ich noch im letzten Jahr 24 Iggesund-Aktien besaß (die ich verkaufte, um ein Auto anzuschaffen, nachdem ich zuvor einen Industriellen in meinem Freundeskreis über die Entwicklung auf dem Großmarkt befragt und erfahren hatte, daß Iggesund noch in diesem Dezennium zum Untergang verurteilt und von der Liquidation kaum weiter entfernt ist als Ramnäs Bruk), ich, der ich in meinem ganzen Leben noch nichts Radikaleres getan habe, als der FNL Fünfzigmarkscheine zu schicken, mich kaum rühren kann, ohne mit Revolutionären in Kontakt zu kommen. Sie lieben mich. Irgend etwas an mir läßt sie mich als einen natürlichen Verbündeten, fast als Freund betrachten. Irgend etwas an mir sagt ihnen, daß ich im Grunde genommen zu genau den Menschen gehöre, die sie zu befreien haben, ja, daß ihr verzweifelter und entschlossener Kampf gegen die lähmende kolonialistische oder postindustrielle Übermacht auf geheimnisvolle Art insgesamt verfehlt wäre, wenn er nicht auch dazu beitragen könnte, mich ein ganz klein bißchen weniger melancholisch zu machen.
Und während die Feuilletonschreiber der großen Zeitungen mit Abscheu und Verachtung von meiner unklaren, halbliberalen Ichsucht sprechen, finde ich mich nicht selten bei schwarzem, kräftigem Tee, pechschwarzem Kaffee und Tequila in spärlich beleuchteten Räumen, zu denen die Liberalen von gestern, die die Taschenbuchausgaben von Antonio Gramsci aufgeschlagen auf dem Nachttisch liegen haben, nicht einmal im Traum Zutritt bekommen könnten.
Unsere gemeinsame Verweigerung der bestehenden Wirklichkeit gegenüber, unsere gemeinsame tiefe, dunkle, trotzige Überzeugung, daß der Mensch, daß der Intellekt letztlich die Geschichte zu formen vermag, verbindet uns und macht uns zu Freunden.
Jetzt kam mir in den Sinn, daß jemand, der tatsächlich wußte, wie viele derartige Freunde ich habe, und außerdem wußte, daß ich jetzt ohne einen offensichtlichen äußeren Anlaß unterwegs war, um E. in seiner Villa an der Fregestraße zu besuchen, daß dieser Jemand dann leicht die Situation mißdeuten könnte.
Hinter der hohen Ligusterhecke waren wieder Schritte im Nebel zu hören. Ich konnte ein Schaudern nicht unterdrücken und wickelte mir den wollenen Schal noch ein weiteres Mal um den Hals. Während der Stunden, in denen der Flugverkehr wegen des Herbstnebels stillgelegt wird, ist der große Platz vor Tempelhof also ein sehr einsamer Ort. Ich begann das Warten unerträglich zu finden. Was bereitete man vor?
Wer »man«? Und diese Johanna, wer war sie? Warum hatte sie mich hier zurückgelassen mit dieser eigentümlich maskulinen, bauchigen Rindsledertasche, die von breiten Lederriemen wie von Sattelgurten umspannt wurde?
Ich spähte so angestrengt in den Nebel hinter mir, daß es eine Weile dauerte, bis ich bemerkte, daß ein sehr mitgenommener Volkswagen hinter mir gehalten hatte. Sowohl seine vorderen wie seine hinteren Kotflügel wiesen kräftige Beulen auf, die offenbar ganz frisch waren, denn der Rost hatte sich noch nicht hineingefressen.
Mit einem Seufzer der Erleichterung entdeckte ich Johanna Becker, die schon dabei war, unsere Taschen in den Kofferraum zu laden.
Im Inneren des kleinen Autos herrschten Licht und Wärme. Ihre schwere rotblonde Haargardine leuchtete im Schein der kleinen Deckenlampe, die jetzt brannte, weil die Tür noch halb offenstand, und aus dem Autoradio kam der dunkle, männliche und trotzige Marsch aus Hector Berlioz’ »Symphonie Phantastique«. Es war ein Gefühl wie nach Hause zu kommen, und mit einem Seufzer des Wohlbehagens machte ich den vergeblichen Versuch, mich in dem kleinen Auto wieder zu meiner embryonalen Haltung zusammenzurollen. Die nackten, spitzen Finger hatten wieder nach meinem Herzen getastet, und wieder hatten sie ihr Ziel verfehlt. Ich atmete aus.
Johanna Becker betrachtete mich aufmerksam, mit jener alles durchschauenden Liebe, die in dem Luftraum über Preußen einen Augenblick lang an meine innersten Wurzeln gerührt hatte.
– So können Sie nicht sitzen, sagte sie mit ihrer tiefen Altstimme. Sie müssen die Sicherheitsgurte umschnallen!
– Warum denn?
– Weil ich erst vor acht Tagen meinen Führerschein gemacht habe.
– Und da fahren Sie schon im Berliner Verkehr?
– Ja; um die Angst
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