Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
Zauber, oder hatte sie darauf so etwas ähnliches wie ein weißes Einhorn gesehen?
Rixende stieg vom Pferd. Ihr Herz klopfte. Sie nahm dem Mann die Fackel aus der Hand und hielt sie hoch. Tatsächlich! Ein Einhorn. Sie hatte sich nicht getäuscht. Lusitanas Prophezeiung. Konnte das ein Zufall sein? Martials Männer sahen sie verwundert an. Weshalb zögerte die Herrin, über den Graben zu reiten, wo man endlich in Sicherheit war?
Doch da wurde bereits das Tor aufgetan. Ein alter Mann, der ebenfalls eine Fackel in der Hand trug, fragte mit lauter Stimme nach ihrem Begehr.
„Fulco von Saint-Georges hat mir Eure Burg empfohlen. Ich bin eine alleinreisende Witwe aus Carcassonne mit ihren Dienern, und erbitte Eure Gastfreundschaft für diese Nacht.“
„Dann kommt nur herüber“, rief der Mann nicht unfreundlich. „Die Betten sind warm und trocken, und das Feuer brennt noch immer im Kamin, so dass Ihr Euch vor dem Schlafen mit einem heißen Wein stärken könnt.“
Martials Leute strahlten. Im Burghof kam auch schon ein Junge herangelaufen, um die Pferde in Empfang zu nehmen. Einige Hunde schlugen an, auch hörte man Schafe blöken. Der Alte schlurfte vor Rixende zum Donjon und wies unterwegs den Dienern die Küche. Der Koch würde ihnen gleich etwas zu essen geben und ihnen zeigen, wo sie nächtigen konnten. Rixende bat er nach oben.
Als sie hinter dem Mann die schmale Treppe hinaufstieg, die zu den Wohnräumen des Burgherren führte, fuhr ihr ein neuer Schrecken durch die Glieder. Oben am Treppenabsatz stand ein Mann, von dem sie im ersten Augenblick annahm, es wäre Fulco. Beim Näherkommen jedoch – und zwar immer, wenn das Licht der Kienspäne aufflackerte, die an den Wänden des Turms in eisernen Haltern steckten – erkannte Rixende, dass es sich nur um eine große Ähnlichkeit handelte. Dennoch waren es Fulcos Augen, seine Brauen und Lippen. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse. Wo war sie nur hingeraten? Träumte sie?
„Seid uns herzlich willkommen, Rixende Fabri“ sagte der châtelain , der Burgherr, der aus der Nähe um etliches älter schien als Fulco. Auch er zog bei ihrem Anblick überrascht die Brauen hoch - verbeugte sich dann aber höflich. „Mein Bruder hat Euch angekündigt. Fühlt Euch also wie zu Hause.“
„Euer Bruder? Ist er ...“
„Fulco von Saint-Georges“, sagte der Mann mit spöttischem Unterton. „Der Mönch. Ich bin der Herr der Burg Castillou, Eugene von Saint-Georges. Aber alle Welt nennt mich Graf Loup, der Wolf. Was uns unser Mönchlein allerdings nicht gesagt hat, ist, dass Ihr, verehrte Dame – nun ja, seht selbst ...“
Der Graf geleitete Rixende zu einer Frau, die in gezierter Haltung auf einer Bank saß und jetzt einen Stickrahmen zur Seite legte. Sie trug keine Gebende. Ihr Kleid, das am Halsauschnitt mit safrangelben und karminroten Stickereien und an den langen, sich vorn verengenden Ärmeln mit einer roten Borte versehen war, betonte ihren schlanken Leib. Als sie aufstand, um den Gast willkommen zu heißen, fuhr Rixende siedendheiß durch den Kopf, dass sie es sein musste, sie und keine andere, die Schuld trug an Fulcos Eintritt ins Kloster: Groß, schlank, das lange dunkle Haar mit ersten Silberfäden durchzogen, war die Frau noch immer wunderschön und ihr selbst – Rixende - wie aus dem Gesicht geschnitten.
„Herzlich willkommen auf Castillou“, sagte sie, ebenfalls vollkommen überrascht von ihrem Gegenüber. Doch sie fasste sich rasch, lächelte ein wenig geheimnisvoll und wies Rixende einen Platz an ihrer Seite zu. „Mein Schwager hat uns auf Euren Besuch in diesen Tagen vorbereitet und uns aufgetragen, Euch jeden Wunsch zu erfüllen. Also, Rixende, so ist Euer Name, nicht wahr, was kann ich Euch Gutes tun? Ihr habt einen langen Ritt hinter Euch, Eure Kleider und Euer Haar sind feucht, würde Euch ein heißes Bad erfreuen, ein klein wenig Fasan? Wein vielleicht ...?“
„Ein Bad? Das wäre himmlisch, doch will ich Euch nicht zu viel Umstände machen!“
„Ihr macht uns keine Arbeit, junge Frau“, sagte die freundliche Burgherrin und klatschte in die Hände. „Im Gegenteil, es ist uns ein Vergnügen, nicht wahr, Loup?“
Der Graf nickte nachdenklich und betrachtete Rixende ein weiteres Mal von Kopf bis Fuß.
„Das reinste Vergnügen!“ meinte er spöttisch und verbeugte sich erneut vor Rixende.
27
So wand sich doppelt rings um uns im Rund
der Rosen dort ein Kranz, die nie verblühen ...
Dante, Die Göttliche Komödie
Rixende lag
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