Robin im Kindergarten
nimmt eine Pfote von Knor und wischt damit die Tränen weg. Er klettert aus dem Bett, nimmt Knor fest in die Arme und läuft die Treppe runter.
Papa sitzt im Arbeitszimmer. Er macht große Striche und Kringel in die Hefte der Kinder. Die Lampe auf dem Schreibtisch brennt.
Robin beobachtet das ganz still.
Dann sieht Papa ihn stehen. Papa steckt seinen Füller in den Mund und guckt Robin mit erstaunten Augen an.
„Mama hat mir kein Küsschen gegeben“, sagt Robin.
„Das hat sie“, sagt Papa. „Ich war selbst dabei. Mama hat Suse ins Bett gelegt, dann hat sie ihre Jacke angezogen, dann hat sie im Flur ihren Regenschirm geöffnet und unter dem Regenschirm habt ihr euch Küsschen gegeben.“
Robin weiß es wirklich nicht mehr.
„Mama hat dir einen normalen Kuss gegeben“, sagt Papa, „und auch ein Küsschen für die Träume. Auf deine Stirn. Und dann hast du Mama auch ein Küsschen für die Träume gegeben.“
„Aber immer, wenn ich fast eingeschlafen bin“, sagt Robin, „träume ich, dass Mama mir kein Küsschen gegeben hat.“
„Dann träume eben etwas anderes“, sagt Papa.
„Das kann ich nicht“, sagt Robin. „Früher konnte ich eine Geschichte träumen, und wenn die Geschichte aus war, dann konnte ich...“, Robin zwinkert mit den Augen, „eine andere Geschichte träumen. Und wenn die auch aus war, dann hab ich es wieder so gemacht...“, und Robin zwinkert wieder mit den Augen, „und dann konnte ich wieder eine andere Geschichte träumen. Aber das kann ich nicht mehr. Jetzt träume ich immer, dass Mama mir kein Küsschen gegeben hat.“
Papa legt seinen Füller auf den Schreibtisch und steht auf.
„Ich bringe dich noch einmal ins Bett“, sagt er, „aber dann musst du wirklich schlafen.“
Sie gehen zusammen zur Treppe.
„Darf ich mit dem Lift fahren?“, fragt Robin.
Papa bückt sich und Robin drückt auf Papas Nase. Papa nimmt Robin hoch und trägt ihn die Treppe rauf. Eine Stufe, zwei Stufen, drei... Da drückt Robin wieder auf Papas Nase.
„Erste Etage“, sagt Papa. „Hier gibt es Träume zu kaufen über Dinosaurier und Bettnässer und Krokodile.“
Die Träume will Robin nicht!
Er drückt schnell auf Papas Nase und Papa läuft weiter die Treppe rauf. Vierte Stufe, fünfte Stufe, sechste Stufe, siebte...
Da drückt Robin wieder auf Papas Nase.
„Zweite Etage“, sagt Papa. „Hier kann man Träume über Knor kaufen. Knor träumt von einem Wald. Es liegen Eicheln auf der Erde. Knor ist verrückt nach Eicheln. Wie viel Eicheln liegen hier wohl auf der Erde? denkt Knor. Wie schön, dass Robin bei mir ist. Denn Robin kann zählen. Vielleicht“, sagt Papa zu Robin, „musst du, wenn du im Bett liegst, die Eicheln zählen.“
Robin will keine Eicheln zählen. Er drückt wieder auf Papas Nase und Papa läuft weiter die Treppe rauf. Acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn... Papa läuft so schnell, Robin kann gerade noch einmal auf Papas Nase drücken, kurz bevor sie ganz oben sind.
„Dritte Etage“, sagt Papa. „Die schönste Etage. Hier werden Träume über Mama verkauft. Dass Mama Küsschen gibt unter dem Regenschirm im Flur...“
„Mama hat mir kein Küsschen gegeben!“, sagt Robin.
Beinahe fängt er wieder an zu weinen.
„Dann träumst du eben“, sagt Papa, „von all den Küssen, die Mama dir schon gegeben hat. Soll ich die mal alle für dich zählen?“
Robin nickt.
„Ah...“, sagt Papa. „Du lebst jetzt schon vier Jahre... äh... das sind fünfzehnhundert Tage... Und ich denke, dass Mama dir jeden Tag bestimmt zehn Küsse gegeben hat... Dann hast du schon mehr als fünfzehntausend Küsse von Mama bekommen.“
„Wirklich wahr?“
„Wirklich wahr“, sagt Papa.
„Aber heute hat mir Mama kein Küsschen gegeben!“
„Doch ganz bestimmt“, sagt Papa. „Du hast ein Küsschen bekommen... Und wenn du noch mehr Küsse willst, hast du Pech, denn Mama kommt erst nach Hause, wenn du schon längst schläfst.“
„Dann schlafe ich eben noch lange nicht“, sagt Robin. „Ich kann nicht ohne Mamas Küsschen einschlafen.“
Robin fängt an zu weinen. Papa geht weiter nach oben.
Vor Robins Zimmertür bleibt er stehen.
„Du weinst nicht wirklich“, sagt Papa. „Ich sehe keine Tränen.“
„Doch“, sagt Robin. „Halt mal Knor kurz fest...“
Er gibt Papa Knor und zieht mit seinen Fingern ein Auge weit auf. So weit, dass er fast nichts mehr damit sehen kann.
Mit einem Finger der anderen Hand deutet er auf ein kleines Pünktchen tief in
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