Robinson Crusoe (Illustrierte Ausgabe) - Defoe, D: Robinson Crusoe (Illustrierte Ausgabe)
meine Schritte alle Tage nach dem Gipfel des Hügels, der ungefähr drei Meilen von meiner Festung entfernt war, um zu sehen, ob ich nicht ein Boot auf dem Meere erspähen würde, das sich der Insel nähere. Nach einigen Monaten jedoch wurde ich dieser Anstrengung überdrüssig, da in dieser ganzen Zeit mein Wachehalten ohne irgend ein Resultat geblieben war. Auch nicht das Geringste hatte sich, so weit meine Augen und Ferngläser reichten, blicken lassen, weder an der Küste, noch in ihrer Nähe, noch auch auf dem weiten Meere.
So lange ich täglich den Weg nach dem Hügel machte, hielt auch mein Eifer für meinen Anschlag vor. Ich befand mich während der ganzen Zeit in einer durchaus geeigneten Stimmung zu einer so unverantwortlichen Schlächterei, wie es das Erschießen eines Haufens nackter Wilden gewesen sein würde. Die Natur ihrer Handlung hatte ich ganz und gar nicht weiter in meinen Gedanken erwogen, war vielmehr einzig meiner aufgeregten Leidenschaft und dem Abscheu gefolgt, den ich bei der Erinnerung an die unnatürlichen Sitten dieser Menschen empfand. Und doch hatte ja die Vorsehung selbst in weiser Anordnung sie ihren abscheulichen und verderblichen Begierden überlassen. Vielleicht waren sie schon seit Menschenaltern solchen grausamen und entsetzlichen Gebräuchen ergeben, wie sie nur völlig gottlose Naturen ersinnen können. Aber jetzt, wo ich, wie gesagt, meiner fruchtlosen Wege, die ich so lange und weithin alle Morgen gemacht hatte, müde war, änderte sich auch meine Ansicht von der Sache selbst. Ich fing an, mit ruhigerem und kühlerem Blute darüber nachzudenken. Welches Recht und welchen Beruf hatte ich denn, mich zum Richter und Henker dieser Menschen aufzuwerfen, welche der Himmel so lange Zeit hindurch ungestraft gelassen und sie gleichsam zu Vollziehern seiner Strafgerichte unter einander gemacht hatte? Was hatten diese Leute mir getan? Was berechtigte mich, in ihre Streitigkeiten mich zu mischen und die Metzeleien zu rächen, die sie an einander verübten? So fragte ich mich oft. Das aber war sicher: die Wilden sahen die Sache nicht als ein Verbrechen an. Sie war nicht gegen ihr besseres Wissen und Gewissen. Sie selbst hatten keine Ahnung davon, daß sie dadurch ein Unrecht begingen und gegen Gottes Gebote sündigten. Ihnen war es ebensowenig eine Sünde, einen Kriegsgefangenen zu töten, als uns, einen Ochsen zu schlachten, und Menschenfleisch schien ihnen ebenso eine naturgemäße Speise wie uns Hammelfleisch.
Nach einigem Nachdenken kam ich zu dem Schluß, daß ich Unrecht gehabt habe, diese Leute als Mörder in unserm Sinne anzusehen. Sie waren es ebensowenig wie die Christen, welche die in der Schlacht gemachten Gefangenen zum Tode verurteilen, oder Scharen von Kriegern ohne Gnade niedermetzeln, wenn sie auch ihre Waffen von sich geworfen und sich ergeben haben. Ferner sagte ich mir: Wenn auch der Gebrauch, den diese Cannibalen unter einander üben, noch so roh und unmenschlich sei, so gehe das mich doch gar Nichts an, da sie mir ja Nichts getan hätten. Hätten sie mich überfallen und wäre es zu meiner Selbstverteidigung nötig, sie zu überfallen, so ließe sich das rechtfertigen. Aber da ich jetzt nicht in ihrer Gewalt sei und sie nicht einmal von meiner Existenz wüßten, folglich auch keinen Anschlag gegen mich zu machen vermöchten, so könnte ich auch nicht zu einem Überfall berechtigt sein. Ich würde mich durch einen solchen auf eine Stufe mit jenen Spaniern gestellt haben, die in ihrer Grausamkeit in Amerika Millionen von Wilden hinmordeten, welche zwar Götzendiener und Barbaren und in ihren Sitten zum Teil blutig und roh waren (wie sie denn z. B. ihren Götzen Menschenopfer brachten), die aber den Spaniern gegenüber doch als ganz unschuldige Leute erschienen. Über ihre Ausrottung wird jetzt nur mit größtem Abscheu und heftiger Entrüstung von den Spaniern selbst und von allen anderen christlichen Nationen Europa’s geurteilt, als von einer Schlächterei, einer blutigen und unnatürlichen Grausamkeit, die unverantwortlich vor Gott und Menschen ist. Hat doch seitdem der bloße Name jenes Volkes bei allen Leuten von christlichem Mitgefühl einen schrecklichen Klang, und betrachtet man doch das Königreich Spanien als dadurch besonders ausgezeichnet, daß es von einer Menschenrace bewohnt wird, die jenes Mitleidsgefühl entbehrt, welches allgemein für das gewöhnlichste Zeichen einer edlen Gesinnung gilt.
Diese Erwägungen brachten mich zum Einhalt in meinen
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