Rocking Horse Road (German Edition)
der Nähe des Hafens von Limassol, vergewaltigt und erwürgt worden war. Der Mörder wurde nie gefaßt. Sie war eine neunzehnjährige britische Touristin aus Leeds. Ihre Leiche war ins Meer geworfen worden. Das Foto auf Marks Bildschirm zeigte eine rosige Engländerin – eine leicht mollige Rothaarige. Doch es gab genügend Parallelen zu unserem Fall, um Marks Interesse zu wecken. Er druckte alles aus und brachte es in unser Archiv (Exponat 135).
Limassol ist ein großer Hafen, wo mit jeder Flut Seeleute kommen und gehen. Aus einer Laune heraus ließ sich Mark Passagierlisten der Schiffe, die in Limassol in der Woche des Mordes vor Anker lagen, zusenden. Die gab es nicht online, also mußte er an die zypriotische Hafenbehörde schreiben, damit sie sie ihm gegen eine Verwaltungsgebühr schickten. Als die Papiere Monate später bei ihm eintrafen, hatte er Seiten über Seiten voller Schiffsnamen plus Daten und Gewichte, alles in Kolumnen geordnet. Hunderte von Schiffen hatten in der Zeit um den Mord herum in Zypern angelegt und waren wieder weggefahren. Darunter aber befand sich das Containerschiff »Gerd Maersk«, das der Schiffahrtsgesellschaft Maersk gehörte und in Kopenhagen registriert war. Es hatte drei Tage vor dem Mord an dem Mädchen in Limassol angelegt und war am Morgen danach wieder in See gestochen. Daran war an sich nichts Seltsames oder gar Verdächtiges, und kaum jemand hätte überhaupt davon Notiz genommen. Aber Mark Murray ist ein kluger Kopf: Er erinnerte sich, daß gegen Ende des Jahres 2003 der Erste Offizier der »Gerd Maersk« Pete Marshalls älterer Bruder Tony gewesen war.
Es ist wahrscheinlich der reine Zufall, der einen Mann von The Spit, der jetzt auf der anderen Seite der Erde arbeitet, an die Stelle brachte, wo eine weitere junge Frau am Meer erwürgt wurde. Über die Jahre haben wir festgestellt, daß Theorien nur dazu da sind, widerlegt zu werden. Aber was die Theorien insgesamt anlangt, so gehört diese zweifellos zu den interessanteren.
Wir haben inzwischen gelernt abzuwarten. Wir haben unsere Bar, den Poolbillardtisch und unser Archiv. Wir können getrost warten, bis Tony Marshall wieder in Lyttelton anlegt, dann nehmen wir ihn uns noch einmal vor.
Wer also hat Lucy Asher ermordet?
Trotz des dünnen Hoffnungsfadens, den Tony Marshall bietet, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß wir es vielleicht nie mit Sicherheit wissen werden. Was wir aber ganz genau wissen, ist, daß sich keiner von uns an die Zeit erinnern kann, bevor wir Lucy fanden. Seither wird unser Leben durch die Suche nach ihrem Mörder, durch die Suche nach ihr, bestimmt – auf Gedeih und Verderb. Der Fall und alles, was damit zusammenhängt, ist uns so vertraut geworden wie die eigene Hand, das eigene Bein oder das eigene Auge. Tatsächlich sogar noch mehr, denn er sitzt in unserem Innersten. Und sicher wird er schwerer zu entfernen sein, sollte sich am Ende rausstellen, daß er wie Petes Eier von Krebs befallen ist.
Seit Petes Begräbnis treffen sich Jim und Al nicht mehr mit uns. Tug Gardiner hat sein Elternhaus verkauft und ist in einen Vorort im Westen der Stadt gezogen. Er wohnt jetzt in einer Siedlung von fast identischen Backsteinhäusern. Wir haben ihm geholfen, das bißchen an Möbeln, was er behalten wollte, mit einem gemieteten Transporter dorthin zu bringen, und seither haben wir auch von ihm nicht mehr viel gehört oder gesehen. Er behauptet, daß er The Spit nicht vermißt.
Ob irgendeiner von uns die gemeinsame Geschichte für immer hinter sich lassen kann, ist mehr als fraglich. Wir denken, daß Jim, Al und Tug sich im Lauf der Zeit wieder bei uns einfinden werden. Vermutlich bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig. Vielleicht sind wir wie diese Puppen, die Lucys Vater aufs Meer gesetzt hat: Wir segeln nach den Launen von Wind und Wellen, unser Kurs und Ziel sind reine Illusion.
Unsere Ordner mit Material zu dem Fall sind zum Bersten gefüllt, und die Regalbretter biegen sich unter der Last, aber in den frühen Morgenstunden, wenn wir nicht schlafen können, oder an den scheinbar endlosen Sonntagnachmittagen, wenn es draußen bedeckt und regnerisch ist und nichts in der Glotze läuft, steigen unweigerlich neue Zweifel in uns auf. Und wenn wir dann wieder von zu Hause zu unserem Lagerraum fahren, dann fragen wir uns gelegentlich schon, ob wir nicht unsere Zeit verschwenden. Dann scheint es uns möglich, daß unser Leben ohne Halt dahintreibt, daß wir unsere besten Jahre mit einer Suche
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