Rocking Horse Road (German Edition)
die meisten Steine getroffen hatten.
Im ganzen verbrachte er zehn Tage im Krankenhaus, wo er zweimal von der Polizei vernommen wurde. Bei der ersten Vernehmung ging es um den Angriff auf ihn. Entgegen unserer Annahme muß SJ mindestens einen von uns erkannt haben, denn die Polizei reagierte schnell. In den Tagen nach dem Orkan wurden wir alle aufgegriffen und einzeln verhört. Wir mußten offizielle Vernehmungsprotokolle unterschreiben. Wir versuchten den Beamten zu erklären, woher wir Lucy Asher kannten, was sie für uns bedeutete. An ihren ausdruckslosen Gesichtern erkannten wir, daß sie uns nicht verstanden. Also gaben wir es schließlich auf und hielten uns an die Tatsachen, antworteten nur noch mit ja und nein. Natürlich hatten wir Angst, aber als die Polizisten hörten, was wir über Lucys Tagebuch und die Fotos zu sagen hatten, verloren sie rasch das Interesse an uns. Sie hatten einen dickeren Fisch an der Angel.
Bei der zweiten Vernehmung von SJ ging es ausschließlich um den Mord an Lucy Asher. Schnell stellten sich zwei Dinge heraus: erstens, daß er ein Verhältnis mit Lucy gehabt hatte. Und zweitens, daß SJ am Wochenende von Lucys Ermordung bei seinen Eltern in Dunedin gewesen war. Als Trauzeuge bei der Hochzeit seines älteren Bruders. Über sechzig Leute konnten bezeugen, in der Nacht von Lucys Ermordung mit ihm zusammengewesen zu sein.
So leicht also kam die Wahrheit ans Licht. SJ hatte Lucy nicht umgebracht. Er hatte kein Verbrechen verübt, wenigstens nicht im Sinne des Strafgesetzbuchs. Lucy war nicht minderjährig gewesen. SJ hatte lediglich gegen die Statuten der Schule verstoßen und sich eines Fehltritts schuldig gemacht. Der Presse gegenüber verneinte er, daß er ein Verfahren anstrengen werde gegen die »nicht identifizierten Jugendlichen«, die ihn angegriffen hatten (Exponat 125, The Press, 11. Juli 1981), zweifellos aus Furcht davor, was über ihn in der Zeitung stehen würde, wenn der Fall vor Gericht käme. Diese Haltung ist ihm sicher von der Polizei nahegelegt worden. Jase Harbidges Vater war noch immer Polizist und hatte Einfluß. Jeder von uns kam mit einer Standpauke der Polizei über die Gefahren der Selbstjustiz davon, und wir wurden in die Obhut unserer Eltern entlassen. In den meisten Fällen brachten die weit weniger Verständnis für uns auf als die Polizei, und es setzte drakonische Strafen. Einigen von uns wurde verboten, zum Spiel gegen die Springboks im Lancaster Park zu gehen. Das war bitter.
Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus packte SJ die wenigen Habseligkeiten, die er aus seinem zerstörten Haus retten konnte, in seinen Wagen und verließ die South Brighton High School und The Spit für immer. Keiner von uns sah ihn wegfahren. Wir wissen, daß er ungefähr ein halbes Jahr später nach Australien übersiedelte, wo er eine Zeitlang unterrichtete, doch dann gab er den Lehrerberuf auf. Zuletzt haben wir vor ein paar Jahren nach ihm geforscht: Er war verheiratet und hatte zwei Söhne, Zwillinge, damals im Teenager-Alter, und lebte in Adelaide, wo er für Fuji Xerox arbeitete, auf der mittleren Führungsebene.
Pete Marshall starb am 31. Oktober letzten Jahres, nur vier Monate nach der Krebsdiagnose. Er war 41, ebenso alt wie wir alle. Pete hinterließ die Anweisung, daß der Trauergottesdienst im Freien gehalten werden sollte. »Unter freiem Himmel. Ich will kein beschissenes Dach über mir«, sagte er uns auf dem Sterbebett. Wir gaben die Botschaft, wenn auch nicht wörtlich, an den anglikanischen Priester weiter, der den Gottesdienst halten sollte. Ein netter Kerl, wenn auch ein bißchen übereifrig. Grant Webb nannte ihn »den Labrador«, und wir wußten, was er meinte. Der Mann befand sich in einem beständigen Begeisterungstaumel und platzte vor guter Laune.
Die Beerdigung fand auf dem Rasen hinter dem Krematorium an der Linwood Avenue statt. Das liegt nahe genug an der Lagune, um bei Ebbe das Watt riechen zu können. Die Rasenfläche ist ziemlich klein, eingefaßt wird sie von niedrigen Hecken und Beeten mit weißen Rosen, die noch längst nicht blühten. Das Frühlingswetter ist unberechenbar, und wir konnten von Glück sagen, daß es nicht regnete. Es wehte ein kalter Wind, und weiße Wölkchen zogen über den Himmel. Die Leute kamen in Winterkleidung. Es waren nicht besonders viele Trauernde, weit weniger, als man bei einem so liebenswerten Menschen wie Pete erwarten würde. Der Bestattungsunternehmer hatte offenbar nicht gewußt, wie viele Leute
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