Römer im Schatten der Geschichte
Neugeborenes willentlich dem Ungewissen preisgibt und damit auch seinen Tod in Kauf nimmt. Solche Entscheidungen gingen den Frauen vielleicht mehr zu Herzen als den Männern. Und mit Sicherheit waren mehr Mädchen als Jungen betroffen. Ein berühmter Brief aus Ägypten ist Zeugnis dieser Realität:
Hilarion seiner Schwester Alis viel Freude und meiner Herrin Berûs und dem Apollonaris. Wisse, daß wir auch jetzt noch in Alexandreia sind; sei nicht ängstlich, wenn sie ganz heimkehren; ich bleibe in Alexandreia. Ich bitte dich und ermahne dich, sorge für das Kind, und sobald wir Unterhalt bekommen, schick ich dich (!) etwas hinauf. Wenn du mit Gottes Segen (?) gebierst, wenn es männlich ist, laß es, wenn es weiblich ist, setz’ es aus. Du hast der Aphrodiaias gesagt, »vergiß mich nicht«; wie kann ich dich vergessen? Ich bitte dich also, ängstige dich nicht. Jahr 29 des Caesar, Payni 23. (
P.Oxy.
IV 744/Schubart, Nr. 46 = Rowlandson, Nr. 230)
Hier verbindet sich also die unzweifelhafte Liebe zum einen Kind mit der unbeirrbaren Entschlossenheit, das nächste loszuwerden, sollte es einMädchen sein. Es gab zwar Verhütungsmittel und Behandlungen, die Fehlgeburten herbeiführten, doch der sicherste Weg, das gewünschte Kind zu behalten und sich des unerwünschten zu entledigen, war die Aussetzung. Noch der Heranwachsenden konnte eine andere Form der »Aussetzung« drohen, wenn eine verzweifelte familiäre Situation dazu führte, dass das Mädchen in die Prostitution verkauft wurde, um der Familie das Geld für Nahrung und Kleidung zu verschaffen, auch das eine schmerzliche Entscheidung.
Wenden wir uns einem glücklicheren Aspekt des Frauenlebens zu – den vielen Möglichkeiten, auch außerhalb von Heim und Familie unter die Leute zu kommen. Alles weist darauf hin, dass Frauen engen Kontakt untereinander pflegten. Sie besuchten Verwandte und Freunde; Familienereignisse waren zu planen und gaben Anlass zu Besuchen; Einkäufe auf dem Markt fielen den Frauen zu, denn die einfachen Leute hatten für solche Besorgungen im Allgemeinen keinen Sklaven, und auch andere tägliche Verrichtungen außerhalb des Hauses gehörten zu ihren Pflichten, so das Wasserholen vom nächsten Brunnen mit Klatsch und Tratsch während des Weges. Und natürlich gab es religiöse Zeremonien, an denen sie teilnehmen mussten, nicht nur innerhalb des eigenen Hauses, sondern auch in Kultstätten in der Nachbarschaft und in nahegelegenen größeren Heiligtümern – vielleicht sogar dann und wann eine Wallfahrt zu weiter entfernten heiligen Orten. Die zahlreichen religiösen Anlässe aller Art sorgten dafür, dass »die Frauen aus dem Haus kamen«, und gaben Gelegenheit zu manchmal feierlich-ernsten, manchmal auch ausgelassenen Feiern. Der gesellschaftliche Verkehr der Frauen wurde von den Männern als Anlass zu bestenfalls frivolem Geschwätz und schlimmstenfalls bösartiger Diffamierung gebrandmarkt; oft wurde auch vermutet, dass Trinkorgien damit einhergingen. Besonders die frühchristliche Literatur gefiel sich darin, kritisch auf diese angeblichen Schwächen hinzuweisen. Während der Autor des Titusbriefs älteren Männern zu Vernunft, Ernst und Mäßigkeit rät, warnt er die älteren Frauen davor, sich Verleumdungen und der Trunksucht hinzugeben, und betont damit die zwei »weiblichen« Schwächen: Tratschen und Saufen (Titus 2,3). Frauen, die als Diakoninnen in der Gemeinde eine Leitungsfunktion übernehmen wollen, müssen »ehrbar« sein, »nicht Lästerinnen, sondern maßvoll, treu in allen Dingen«. Ein maßvolles Wesen wird auch als Voraussetzung fürden guten Ehemann genannt (1. Timotheus 3,2), dass aber von Männern Verleumdungen ausgehen könnten, wird nicht angedeutet (1. Timotheus 3,2). Insbesondere Witwen gelten als anfällig für die Laster Sex, Klatsch, Wichtigtuerei und Trunksucht: »Der jungen Witwen aber entschlage dich, denn wenn sie geil geworden sind wider Christum, so wollen sie freien und haben ihr Urteil, daß sie den ersten Glauben gebrochen haben. Daneben sind sie faul und lernen umlaufen durch die Häuser; nicht allein aber sind sie faul, sondern auch geschwätzig und vorwitzig und reden, das nicht sein soll« (1. Timotheus 5,11 – 13). Diese Vorstellung eines mangelnden Verantwortungsbewusstseins ist fester Bestandteil der allgemeinen Herabwürdigung der Frau, von der die männliche Kultur geprägt ist. Sieht man jedoch von solchen Feindseligkeiten und Verdächtigungen ab, bietet sich das Bild sozial
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