Römer im Schatten der Geschichte
Klärung dessen bei, worauf wir hier aus sind. Antike Quellen liegen in zweierlei Form vor: Sie sind entweder als solche oder beiläufig entstanden. Erstere sind für unseren Zweck in der Regel irrelevant, doch Letztere können entscheidend sein. Es kommt immer wieder vor, dass ein Autor der Oberschicht zum Beispiel bei der Darstellung der römischen Expansionskriege hie und da kontextuelle Details und Informationsschnipsel einfügt, die in Kombination mit anderen Zeugnissen ansatzweise ein Bild der normalen Bevölkerung entstehen lassen. Eine direkte Stimme haben die Erfahrungen dieser gewöhnlichen Menschen in den erhaltenen römischen Geschichtswerken nicht. Gelegentlich ist es aber möglich, Einsichten in das Leben der Unsichtbaren selbst dort zu gewinnen, wo dies nicht beabsichtigt war, und diese Erkenntnisse durch Blickpunkte und Zeugnisse aus verschiedenen anderen Quellen zu erweitern.
Ich suchte nach einem Begriff, der die demographische Gruppe umfasst, die das Thema meines Buches ist, und möchte sie die »gewöhnlichen Menschen« nennen, eine Definition, die sie von der Elite unterscheidet und andererseits offen bleibt für die ganze Vielfalt ihrer Existenz – Wohlhabende und wenig Begüterte bis hin zu den ausgesprochen Armen, Männer und Frauen, Sklaven und Freie, Gesetzestreue und Banditen. Die Welt dieser gewöhnlichen Leute wurde beherrscht von einer winzigen, auf Machterhalt bedachten Oberschicht, begrenzt und definiert durch Reichtum, Tradition, Abstammung und politischen Einfluss. Die Angehörigen der Oberschicht ordneten sich selbst einem von drei Ständen oder
ordines
zu: Der Stand der Senatoren war der sozial und politisch höchstrangige, wenn auch nicht unbedingt der reichste. Der Ritterstand war mehr auf den Erwerb von Vermögen als auf Macht und Rang der Senatoren aus. Der Stand der Dekurionen verwaltete die Groß- und die Provinzstädte des Reiches und entsprach der Kategorie der Senatoren und Ritter Roms. Diese Männer waren meist weniger wohlhabend als die Angehörigen des Senatoren- und Ritterstands, obwohl lokale Dekurionen manchmal auch Ritter waren. Zusammen umfassten die drei Stände nicht mehr als 100 000 bis 200 000 Mitglieder, weniger als ein halbesProzent der Bevölkerung des Reiches von 50 bis 60 Millionen. Unter ihnen zählten nur die Männer, etwa 40 000 an der Zahl, und damit kam, da das Imperium Romanum zu dieser Zeit rund 6,5 Millionen Quadratkilometer umfasste, durchschnittlich ein erwachsenes männliches Mitglied der Oberschicht auf etwa 155 Quadratkilometer. Da die Eliten sich in Rom konzentrierten, war der Anteil andernorts noch geringer. Doch diese verschwindend kleine Zahl weit verstreuter Repräsentanten dieser Schicht hatte fast alles in ihrer Gewalt. Obwohl sie für das vorliegende Projekt nicht unmittelbar von Bedeutung sind, darf man ihren Einfluss auf die übrigen 99,5 Prozent nicht aus den Augen verlieren.
In den folgenden Kapiteln werden die von der Geschichte vergessenen Bewohner des römischen Kaiserreichs in verschiedene Gruppen eingeteilt, die einander mehr oder weniger ausschließen. So gibt es separate Kapitel über gewöhnliche Männer und Soldaten und über gewöhnliche Frauen und Prostituierte. Das Ziel wird sein, soweit möglich Zugang zum Denken dieser verschiedenen Menschen zu finden: Welche Anschauungen und Erwartungen hatten sie? Welche Ängste plagten sie und von welchen Hoffnungen ließen sie sich leiten? Der amerikanische Althistoriker David Potter schreibt: »Es kann keine allgemeingültige Definition der Geschichte oder des historischen Prozesses geben, die nicht auch die letztlich subjektive Auswahl sowohl der Zeugnisse als auch der Darstellung berücksichtigte.« Ich treffe Entscheidungen und fälle Werturteile, wenn ich in diesem Buch verschiedenartige Fäden zum Teppich des Lebensalltags der unsichtbaren Römer verknüpfe. Eine lesbare und aufschlussreiche Darstellung der missachteten Mehrheit zu schaffen war ein reizvolles Unternehmen, und ich hoffe, dass Leserinnen und Leser an dem Ergebnis ihr Vergnügen haben – an dem Blick auf die Menschen im Schatten der Geschichte, die endlich sichtbar sind.
IN DER MITTE:
GEWÖHNLICHE MÄNNER
D en überwiegenden Teil der Literatur und herausragenden materiellen Kultur, die wir gemeinhin die »römische« nennen, haben Kaiser, Senatoren und Ritter sowie die lokalen Gruppen der Magistrate, städtischen Räte und Priester des Römischen Reiches – mithin die Elite – geschaffen.
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