Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
Hexe, die er seit seiner Kindheit fürchtete, hatte er in Roen Orm gesehen, sie all die Zeit verfolgt, sich über sein Geschick gefreut, ihre Spur nicht zu verlieren. Es hatte schon viel zu lange gedauert, ihre Illusion als sittsame Hofdame zu durchschauen, mit der sie ihn jahrelang genarrt hatte.
Wahrscheinlich hat sie nur mit mir gespielt. Ich bin eben doch ein Schwächling, eine Gefahr für mich und andere. Zu dumm, zu ungeschickt, um die Kraft zu nutzen, von der jeder behauptet, sie wäre in mir. Sie hätte mich töten sollen, dann wäre die Welt von mir erlöst. Nun denn. Schleiche ich also gedemütigt heim.
Als ihm bewusst wurde, dass er war der einzige Lebende unter unzähligen Leichen war, schrie er voller Grauen, packte sein Schwert und den Mantel und floh.
Inani wandte sich lächelnd ab, sie hatte ihn aufmerksam aus den Schatten heraus beobachtet.
Ein vollkommener Tag , dachte sie zufrieden, während sie ihre Haare verhüllte. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie die beiden Bettlerkinder, die sich über zwei Leichen beugten und ihnen sorgfältig die Augen verbanden. Auch andere, die sie auf ihrem Weg beschenkt hatte, kamen nun auf den Marktplatz, manche weinend, die meisten starr vor Trauer und Entsetzen.
Anmutig schritt sie fort. Das Leben einer Hexe war erfüllt von Pflichten, und sie wollte nicht länger müßig sein.
2.
„Wenn du aufhörst, bessere Zeiten zu erhoffen, kannst du trotzdem leben. Wenn du aber aufhörst, die Schönheit der Welt zu bewundern und ängstlich zu warten, was der neue Morgen bringt, dann bist du bereits tot.“
Zitat von P’Maondny, Traumseherin der Elfen
„Nun komm weiter, Pera, wir sind fast oben!“, rief Jordre drängend. Sie quälten sich durch einen Schneesturm, die weißen Massen reichten ihnen fast bis zur Brust. Seit Tagen wanderten sie durch die stille Bergwelt, in der sie die einzigen lebendigen Wesen waren. Beide wussten nicht, was schlimmer war: Die tödliche Kälte und Einsamkeit hier oben, oder das übermäßige feindliche Wimmeln von Kreaturen in den Tälern, die nur im Sinn hatten, sie zu töten. Im Moment schien es zumindest, dass die kalte Leere Osmeges Zielen besser diente. Sie waren nicht für ein solches Wetter gerüstet, Pera wusste kaum, was Schnee eigentlich war.
„Nun komm, wir haben es bestimmt gleich geschafft!“
Pera blickte nicht einmal auf. Er wiederholte diese Worte bereits seit Stunden. Sinnlos, ihm zu widersprechen, sie wusste, er wollte sie nur dazu bringen weiterzulaufen. Stehenbleiben wäre der sichere Tod. Auch, wenn sie in Dunkelheit und Sturm längst den Weg verloren hatten.
Wir sind nicht allzu weit gekommen damit, die Welt zu retten. Ob Chyvile enttäuscht sein wird? Ihr Opfer war umsonst. Alles war umsonst. Wäre Chyvile doch bei ihnen geblieben! Wahrscheinlich ist sie längst tot. Und es ist ja tatsächlich nicht mehr viel von dieser Welt da, was noch wert ist, gerettet zu werden …
Pera fand sich im Schnee liegend wieder, ohne sich erinnern zu können, wann sie gestürzt war. Sie hörte, wie Jordre auf sie einsprach, an ihr zerrte, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Er war wirklich lieb, warum sah er nicht ein, wie sinnlos das alles war?
~*~
Was ist das?, dachte sie.
Es fielt ihr schwer, sich zu konzentrieren. Zu lange schon dämmerte sie dahin, allein.
Allein …
Selten wagte sie einen Blick in die andere Welt. In die Welt der Lebendigen. Es gab zu wenig echtes Leben dort, das sie sehen wollte. Nur Monster. Chimären. Entartete Bestien.
Osmeges Hass durchzog alles wie Gift.
Osmege …
Der Dunkle hatte getötet, was sie am meisten geliebt hatte.
So lange war das her ...
Sie war müde. Müde mit anzusehen, was aus der Welt geworden war. Längst hatte sie vergessen, warum sie noch hier verweilte. Worauf sie wartete oder hoffte.
Es gibt keine Hoffnung.
Irgendetwas störte sie. Eine Gegenwart, die sie so lange nicht mehr gespürt hatte, doch die Namen ...
Beinahe hätte sie sich erinnert.
Gereizt schlug sie die Augen auf und quälte sich hoch. Alles drehte sich, die Wände ihres Schlafraums schienen auf sie niederzufallen. Ihr Gefängnis. Ihre Zuflucht.
Stöhnend blickte sie durch den dünnen Schleier, der ihr Exil von der Wirklichkeit trennte, suchte die Präsenz, die ihre Träume störte. Sie war immer noch da, diese Präsenz, sogar zwei Lebewesen.
Ja, ich bin mir sicher …
Sie war überzeugt davon, die Wesen erkannt zu haben. Lediglich die Namen wollten ihr nicht einfallen. Auf der anderen Seite lagen
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