Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
verführerisch klimperte. Noch bevor der Bettler etwas erwidern konnte, war der Fremde verschwunden.
„Bei allen Feuern des Himmels!“, murmelte der Alte misstrauisch und schlug vorsichtshalber den Sonnenkreis gegen böse Geister. Inani beeilte sich weiterzukommen, bevor ihr Verfolger sie noch erwischte. Genug gespielt! Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Inani erkannte das Zeichen über der Tür sofort. Nur wenige Menschen waren in der Lage, die magischen Schutzrunen in den Holzbalken zu sehen, selbst jene mit der Gabe nicht.
„Die gute Yosi wird bestimmt schon warten“, murmelte sie besorgt, nachdem sie den Stand der Sonne überprüft hatte. Sie hatte mehrere Stunden damit zugebracht, ihren Korb zu leeren. Trotzdem nahm sie sich die Zeit, die letzten beiden Leinentücher an zwei Bettelkinder zu verschenken.
„Was soll’n wir’n damit?“, fragte das Größere der beiden mürrisch.
„Wisst ihr denn nicht, dass man den Toten die Augen verbinden soll? Sie dürfen nicht sehen, wohin ihre Seele getragen wird, sonst lässt Geshar, der Seelenträger, sie in den Abgrund fallen, der zwischen der Welt der Lebenden und Toten liegt“, erklärte Inani geduldig.
„Wissen wir doch. Aber warum gibst du uns dann so’n Tuch?“
Sie beugte sich zu dem Kind hinab. Es schien ein Mädchen zu sein, auch wenn es unter all dem Schmutz kaum zu bestimmen war.
„Pass sorgsam auf dieses Tuch auf. Du wirst es schon sehr bald brauchen!“, wisperte sie. Voller Angst starrte das Kind sie an, umklammerte das Tuch, packte seinen Gefährten und rannte mit ihm davon, so schnell es konnte. Inani horchte in sich hinein – nein, sie war ihren Seelentieren im Moment nicht nah. Das Mädchen hatte nicht vor Reptilien- oder Raubtieraugen fliehen müssen. Das war wichtig, Inani musste ganz und gar Mensch sein, um das Ritual durchführen zu können.
Die Tür öffnete sich, bevor Inani sie berührt hatte.
„Du kommst spät, verdammt!“, murrte eine brüchige Stimme aus der Finsternis des Raumes. Das gesamte Haus bestand aus diesem einzigen Raum. Es gab kein Fenster, nur ein prasselndes Feuer auf dem Boden, in einem von Steinen umgebenen Loch, sorgte für Licht und bullige Hitze. Eine uralte Frau erhob sich mühsam von einem Hocker. Vor ihr stand ein Webrahmen, neben ihren Füßen ein niedriges Körbchen. Das Symbol ihres Lebenswerks.
„Ich habe schon seit Tagen alles fertig, wo bleibst du denn? Ich dachte schon, ich müsste ganz alleine gehen.“ Milchweiße Augen starrten vorwurfsvoll in Inanis Richtung.
„Ich werde verfolgt. Ein Priester aus Roen Orm. Hitziger junger Bursche, wahrscheinlich will er mich mitten auf dem Marktplatz zu verhaften suchen.“ Inani lächelte nachsichtig. Der junge Geweihte verfolgte sie seit Wochen. Sie spielte mit ihm, hinterließ immer wieder Spuren, damit er auf ihrer Fährte bleiben konnte. Bislang war er ihr nie wirklich nah gekommen. Heute aber, das spürte sie, würde sie mit ihm zusammenstoßen. Heute war ein guter Tag!
Auch, wenn eine zarte Stimme der Vernunft darum bettelte, sich von ihm fernzuhalten. Zu ihrem eigenen Schutz, und um ihn nicht ungewollt zu vernichten.
„Unterschätze ihn nicht. Der Glaube, das Richtige zu tun, verleiht den Menschen Kräfte, die deinen gleichwertig sein können“, brabbelte die Alte, und sank stöhnend zurück auf den Hocker. Als sie vor drei Tagen nach Inani gerufen hatte, war sie eine schöne junge Frau gewesen, um deren honigblondes Haar Inani sie immer beneidet hatte.
„Nimm das Zeug endlich mit, ich will meine Ruhe.“
„Gewiss, Liebes“, flüsterte Inani, kniete neben der Frau nieder, die ihr eine Freundin gewesen war und umarmte sie. Gemeinsam sprachen sie die geheiligten Worte des Rituals auf Is’larr. Yosis Leib bäumte sich auf, sie stöhnte tief. Doch Inani wiegte sie weiter sanft in ihren Armen, küsste ihre Stirn, strich beruhigend über das schüttere weiße Haar, bis der alte Körper schlaff zusammensackte.
„Du warst eine der besten“, sagte Inani trauernd, und legte die tote Frau behutsam auf den Boden. Sie war dankbar, dass diese Ehre ihr zuteil geworden war. Die gesamten Erinnerungen der Hexe sickerten in ihr Bewusstsein ein. Mit der Zeit würden sie verblassen, im Moment aber erinnerte Inani sich an ein Leben, das sie niemals geführt hatte, und es waren viele Jahre gewesen. Ein Leben, gewidmet der Aufgabe, die Chroniken der Töchter Pyas zu schreiben. Inani erschauderte, denn auch sie war in diesem Buch verewigt, und zwar mit dem
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