Röslein rot
Gutshöfen mit Stallungen erhalten, die sie allesamt besichtigen wollte. »Dort könnte ich sogar Pferde züchten! Willst du nicht mitkommen«, fragte sie aus alter Gewohnheit, »du hast einen scharfen Blick.«
»Nimm deine Töchter mit«, sagte ich, »schließlich sind sie ebenfalls vom Umzug betroffen.«
Doch Nora und Korinna wollten nicht; sie empfanden Umsiedlung, Schulwechsel und Verlust ihrer Freunde als solche Zumutung, daß sie nicht mehr mit ihrer Mutter sprachen.
Später erfuhr ich, daß Silvia tatsächlich Reinhard im Büro aufgesucht hatte, um seine Hilfe zu erbitten. Er lehnte ab. Ich nehme an, daß man sie beim Kauf ziemlich übervorteilt hat. Sie erwarb einen großen maroden Bauernhof in Schleswig-Holstein und hatte es mit dem Umzug so eilig, daß sie sich keine Zeit ließ, auch nur die wichtigsten Reparaturen vorher durchführen zu lassen. Sie wird die nächsten zehn Jahre auf einer Baustelle wohnen.
Heute weiß ich selbst nicht, wie ich es in diesen turbulenten Wochen geschafft habe, das Stilleben für Ellens Freundin zu malen. Es blühten längst keine Vergißmeinnicht mehr in unserem Garten, und ich mußte ein botanisches Lehrbuch zu Hilfe nehmen. Aber natürlich gewinnt man Zeit, wenn kein Mann im Haus ist. Gemeinsame Fernsehabende, tägliches Erzählen, Spaziergänge und gemütliche sonntägliche Mahlzeiten entfallen. Zwar kümmere ich mich so liebevoll wie möglich um die Kinder, telefoniere häufig mit meinen Freundinnen und lasse den verkleinerten Haushalt nicht verlottern, aber ich reserviere jede freie Minute fürs Malen. Fast war ich betrübt, als das Bild fertig wurde, aber andererseits machte mir das Ergebnis Mut zu neuen Experimenten. Ich hatte es geschafft, Perspektive und Proportionen, Überschneidungen und Lichteinfall zur eigenen Zufriedenheit darzustellen.
Eines Tages setzte ich eine Anzeige in die Zeitung und legte in meiner Buchhandlung und in anderen Stammgeschäften Handzettel aus.
DAS BESONDERE GESCHENK
ICH MALE LIEBLINGSGEGENSTÄNDE
FÜR PERSÖNLICHKEITS-STILLEBEN
TEL.: 04 04 31
Tatsächlich riefen ein paar Leute an und fragten nach Preis und Lieferzeit. Ein früherer Kunde von Reinhard, Helmut Rost, wollte seine Uhrensammlung malen lassen, meldete sich aber kein zweites Mal. Schließlich besuchte mich die Frau eines Bankdirektors und ließ sich meine bisherigen Bilder zeigen. Zum zehnten Hochzeitstag wollte sie ihrem Mann ein Gemälde schenken, auf dem beseelte Objekte (wie sie sich ausdrückte) an glückliche gemeinsame Jahre erinnerten. Sie zählte auf: die Noten einer Mozartarie, weil sie sich anläßlich eines Konzertes kennengelernt hatten, eine Speisekarte, ein Foto, ein getrocknetes Ginkgoblatt. Bereits hier unterbrach ich. Sie könne die Originalpapiere doch als Collage in einen schönen Rahmen stecken! Das gepreßte Blatt sei ebenfalls wie gemacht für diesen Zweck. Verwundert sah sie mich an: »Gute Idee«, meinte sie und ging.
Von Lucie angestachelt, besorgte mir auch Gottfried einen Auftrag. Der Chor, in dem er sang, beging demnächst das zwanzigste Jubiläum seines Bestehens. Die Sänger planten ein exklusives Geschenk für ihren Chorleiter; leider dachte man aber keineswegs an handliche Gegenstände, die ich auf den Küchentisch legen und abzeichnen konnte, sondern an die Helden vergangener Konzerte. So sollte zum Beispiel Händels biblischer Held, der langhaarige Samson, Purcells heidnische Fairy Queen verliebt umarmen. Das überstieg meine Fähigkeiten, ich mußte passen.
Als eines Tages der Inhaber des Schlemmerrestaurants anrief, machte ich mir wenig Hoffnung. Aber gerade seine Idee entpuppte sich nicht nur als originell, sondern auch als machbar. Herr Fähringer wünschte sich ein Bild für seine Geliebte, die Gemüseköchin des Lokals. Da er im Laufe ihrer langjährigen Freundschaft eine ganze Kollektion an edlem Schmuck verschenkt hatte, sollten Ringe, Broschen und Ketten in buntem Reigen mit Naturalien aus der Hotelküche abgebildet werden. Da ich wußte, daß dieser Auftrag mein Talent nicht überforderte, war ich begeistert. In einwöchiger Arbeit entstand ein dekoratives Gemälde mit dem Titel »Geputztes Gemüse«, von dem mein Auftraggeber hingerissen war.
Ein Granatringlein schmückt den Spargel, ein Ohrring steckt am Lauchstengel, eine Brosche ziert den Kohlkopf, und selbst um Pilze und Mohren schlingen sich schimmernde Perlenketten. Auf Wunsch tupfte ich in alle vier Ecken ein Maßliebchen, denn die Herzallerliebste hört auf den
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