Röslein rot
Allerdings habe er erwartet, daß ich ordentlich Herzklopfen bekäme, denn eine geringe Menge von dem Zeug solle ja tatsächlich in der Flasche gewesen sein.
»Den giftigen Saft habe ich versteckt«, sagte ich, »und durch Gerds Analyse kann ich beweisen...«
Ruckartig startete Reinhard erneut und wendete mitten auf der Straße. »Wir fahren jetzt zu Silvia«, sagte er, »und hören uns an, was sie zu diesem Thema zu sagen hat.«
Ich begehrte auf; es sei wirklich zu spät, um noch unangemeldet Besuche zu machen. Reinhard fand es aber in Anbetracht der hochbrisanten Entwicklung gerade richtig, überraschend bei ihr vorzusprechen. War er am Ende auf meiner Seite?
Aber ich hatte keine Kraft mehr. »Bitte, Reinhard«, sagte ich weinerlich, »ich habe solche Schmerzen! Ich kann jetzt wirklich nur noch meine Pillen schlucken, die Salbe auftragen und ins Bett gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Angesichts meiner kläglichen Lage drehte Reinhard den Wagen wieder in die alte Richtung und fuhr nach Hause.
Die Kinder schliefen nicht, sondern saßen übermüdet vorm Fernseher. Reinhard scheuchte uns alle ins Bett, mir hätte er es allerdings auch weniger barsch sagen können. Außer dem verordneten Schmerzmittel schluckte ich ausnahmsweise eine Schlaftablette.
Nachts wurde ich trotzdem wach, weil sich etwas Warmes an meine geschundenen Glieder drängelte. Unverschämtheit, dachte ich, meinen künstlich eingeleiteten Schlaf zu stören! Aber Reinhard schnarchte in angemessener Entfernung in seiner Betthälfte, es war Jost. »Schlecht geträumt«, murmelte er und entspannte sich mit einem Seufzer an der Mutterbrust. Für mein achtjähriges Söhnchen hatte ich natürlich immer Platz, auch wenn die malträtierten Knochen noch so weh taten.
Leider ging es in meinen eigenen Träumen ebenfalls unerfreulich zu, denn ich erlebte den geplanten Besuch vorweg. Silvia servierte uns diesmal Earl Grey, und zwar in einer Artdeco-Kanne, die ich als Studentin von einer Schottlandtour mitgebracht hatte. Die viereckige grüngemusterte Teekanne stammte vom Trödler; ich hatte sie, in Pullover gewickelt, sechs strapaziöse Wochen im Rucksack getragen. Sie diente mir als Erinnerung an meine erste Reise auf eigene Faust, war mein ganz persönlicher Schatz, und nur Lieblingsgäste kamen in den Genuß, ihren Tee darin kredenzt zu bekommen. Nun stand sie auf Silvias Rauchglastisch, weil Reinhard sie ihr als kleine Morgengabe geschenkt hatte. Im Traum heulte ich los, und als ich zum zweiten Mal wach wurde, war mein Gesicht ganz naß. Am liebsten hätte ich Reinhard geweckt und wegen dieser ungeheuerlichen Tat angeklagt.
Den nächsten Vormittag verschlief ich zur Hälfte. Als ich wach wurde, regnete es. Reinhard war wohl im Büro, durch die geöffnete Schlafzimmertür drangen streitende Kinderstimmen.
Sekundenlang fühlte ich mich geborgen. Aber als ich mich räkelte, wurde ich schmerzhaft an den gestrigen Tag erinnert. Hatte ich mit Reinhard etwas Konkretes vereinbart? Wann mußten wir Silvia, die Schreckliche, heimsuchen?
Als ich ins Bad lahmte, entdeckten mich die Kinder. Die fürsorgliche Lara ließ mir Badewasser ein und erschrak, als sie meine blauen Flecken sah. Aber kaum wollte ich ins Wasser steigen, winkte mich Jost ans Telefon. »Der Papa!« rief er.
»Ich kann mich um vier Uhr freimachen«, sagte Reinhard, ohne sich nach meinem Befinden zu erkundigen. »Es wäre gut, wenn du dann fertig bist. Ich nehme an, daß Silvia um diese Zeit zu Hause ist.«
»Du kennst dich mit ihren Gewohnheiten besser aus als ich«, sagte ich spitz.
Das warme Wasser tat mir nicht gut, der Tee, den die Kinder mir machten, schmeckte mir gar nicht, sie gingen mir mit ihrem Pflegebedürfnis auf den Wecker. Ich hatte jämmerliche Angst. Kurz vor vier zog ich mir etwas Neues an. Kaffee, Schmerztabletten und ein Küchenmesser in der Handtasche stärkten mich zusätzlich. Diesmal würde ich mich nicht lumpen lassen.
Reinhard fuhr pünktlich vor und hupte.
Ich herzte die Kinder, als gelte es, Abschied für immer zu nehmen.
»Wohin fahrt ihr?« fragte Lara mißtrauisch.
Um sie nicht noch mehr zu beunruhigen, erfand ich eine Ausrede.
Nicht Silvia, sondern Korinna machte auf. »Sie ist nicht da«, sagte sie unfreundlich.
Wann ihre Mutter zurückkomme? fragte Reinhard.
Die dürre Tochter zuckte die Achseln. Wenn Silvia bei den Pferden sei, bleibe sie stets lange fort. Im Grunde war ich hocherfreut, daß der Kelch für heute an uns vorübergegangen
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