Röslein rot
suggerierte sie mir, sie werde ebenfalls sterben, wenn ich ihr nicht Gesellschaft leistete.
Das Bett meines Vaters wird heute noch frisch bezogen. Es hieß eine Weile »Papas Bett«, und schließlich nannte Mutter es »das kranke Bett«. Noch zu Lebzeiten meines Vaters war sein Krankenlager nämlich mit einigen Extras ausgestattet worden - einem Lattenrost, den man verstellen und aufrichten kann, einer besonders biegsamen Unterlage und einem schwenkbaren Tablett. Als Mutter nach meinem Auszug das Schlafzimmer wohl oder übel allein bewohnen mußte, entdeckte sie die Vorzüge des kranken Betts. Wenn die Grippe sie übermannte, pflegte sie ins Nachbarbett umzusiedeln. Später rüstete sie es mit einer Latexmatratze und einem neuen Lattenrost aus, der mittels Motorkraft sowohl am Fuß- als auch am Kopfende in jede beliebige Höhe gehievt werden konnte. Wer sich in der Terminologie meiner Mutter nicht auskennt, würde das kranke Bett eigentlich für das gesündere halten, denn das gesunde Bett besitzt eine uralte, durchgelegene Matratze. Selbst ein muskulöser junger Rücken würde auf dieser Unterlage bald an Kreuzschmerzen leiden.
Ich nehme an, daß meine Mutter immer einige Tage im gesunden Bett verbringt, um dann durch ihre völlig verspannte Rückenmuskulatur einen Grund zu haben, aufs kranke Bett umzusteigen. Dort kann sie mit ruhigem Gewissen stundenlang faulenzen und lesen, frühstücken und fernsehen. Mal stellt sie mittels Knopfdruck das untere Ende steil in die Höhe, so daß bereits ihre Oberschenkel abheben und die Waden im rechten Winkel dazu flach aufliegen, mal läßt sie sich in sitzende Position aufrichten, dann wieder oben und unten erhöhen, so daß sie fast wie ein Klappmesser daliegt. Nach mehrtägiger Lust im kranken Bett ist sie wieder fit genug, um die Strapazen des gesunden Betts auf sich zu nehmen.
Natürlich steht das Telefon meiner Mutter auf dem Nachttisch des kranken Betts, damit sie es in ihrer Sterbestunde zur Hand hat. Dafür nimmt sie in Kauf, daß sie bei jedem Klingeln ins Schlafzimmer stürzen muß. Dort läßt sie sich fallen und greift zum Hörer. Ich kenne Raucher, die sich beim Telefonieren sofort eine Zigarette anstecken müssen; man merkt es an einer sekundenlangen Unaufmerksamkeit, am Klicken des Feuerzeugs und am anschließenden tiefen Einatmen. Bei meiner Mutter vernimmt man ein leise surrendes Geräusch - sie stellt sich bei einem Schwatz mit mir stets das Kopfteil hoch.
Wahrscheinlich war es das kranke Bett, das mich frühzeitig aus dem Haus getrieben hat. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr konnte ich im eigenen Zimmer schlafen und meine Freundinnen gelegentlich zum Übernachten einladen. Meine Eltern erlaubten mir auch, in den Ferien oder nach Geburtstagsfeiern bei anderen Mädchen zu logieren. Doch nach Vaters Tod war es damit vorbei, was zwangsweise zu Isolierung führte.
Wenn ich auf Klassenfesten oder Teenagerpartys auf die Pauke hauen wollte, dann ließ mich Mutter Punkt zehn von einem Taxi abholen. Wahrscheinlich stand weniger die Sorge um mich im Vordergrund als vielmehr die Angst, stundenlang auf die Besetzung des Bettes neben ihr warten zu müssen. Brachten mich die Eltern einer Freundin nach Hause, dann lag sie stets noch wach und sah mich mit vorwurfsvollen Augen an.
Nach dem Abitur kam für mich nur eine Ausbildung in Frage, die ich außerhalb unserer Stadt machen mußte. Ich beschloß, in Heidelberg Biologie zu studieren. Obwohl mir dieses Fach nicht sonderlich am Herzen lag, tat ich zu Hause doch, als hinge meine Seligkeit davon ab.
Mutter liebt mich vielleicht. Sie gab nach, beziehungsweise sah ein, daß ihr einziges Kind nicht ein Leben lang an ihrer Seite schlafen konnte. Selbstverständlich fuhr ich anfangs am Wochenende nach Hause und legte mich neben sie. Aber nach etwa einem Jahr war Mutter entwöhnt, rief nicht mehr täglich an, kontrollierte auch nicht durch ein zusätzliches Telefonat mein abendliches Heimkommen, schickte mir keine Päckchen mit Zervelatwurst und Haselnußmakronen mehr und machte kein Theater, als ich in den Semesterferien mit einer Freundin eine Schottlandreise unternahm. Ich hatte sehr viel nachzuholen.
Nach einem weiteren Jahr brach ich das Studium wegen einer Asbestallergie, einem ungerechten Professor und der Unlust, mich mit der verhaßten Mathematik, mit Physik und Chemie zu befassen, einfach ab. Meiner Mutter sagte ich nichts davon; ich würde ihr, wenn ich erst einmal wußte, was aus mir werden sollte, alles
Weitere Kostenlose Bücher