Röslein stach - Die Arena-Thriller
Thema anzusprechen: »Was wird Selin jetzt eigentlich machen? Ich meine, wo geht sie als Nächstes hin?«
»Keine Ahnung.«
»Aber sie muss doch irgendeinen Plan haben«, insistierte Antonia und fügte in Gedanken hinzu: Oder worüber redet ihr, wenn ihr stundenlang auf der Bank hinterm Schuppen sitzt, so wie gestern Abend?
»Das wird sich schon finden.«
»Weiß sie schon, dass sie Ende Juli ausziehen muss?« Antonia ließ jetzt nicht locker.
»Nein. Ich wollte, dass sie sich erst mal wieder einkriegt, bevor ich ihr den Rausschmiss androhe. Sie hat ja viel mitgemacht. Oder denkst du, man steckt es einfach so weg, wenn man von der eigenen Familie verraten und verkauft wird wie… wie ein Stück Vieh und wenn man sich nicht mehr auf die Straße wagen kann, weil man Angst haben muss, von den eigenen Eltern verschleppt zu werden?« Sein Ton war leidenschaftlich geworden, fast schon zu laut für einen Friedhof.
Im selben Moment begriff Antonia, dass Robert sich in Selin verliebt haben musste. Warum würde er sie sonst so in Schutz nehmen? Ihre Hochstimmung, die sie bis eben noch fast über den Boden hatte schweben lassen, fiel in sich zusammen. Die Seifenblase war geplatzt.
»Du kannst sie nicht leiden, was?«, meinte Robert angriffslustig.
Die Versuchung, ihm von dem Geld zu erzählen, war groß, aber verblendet von Selins Reizen würde er sicher auch dafür eine Erklärung parat haben. Vielleicht wusste er sogar davon. Robert war ja der Einzige, mit dem Selin längere Zeit geredet hatte.
»Sie ist mir unheimlich«, gab Antonia zu. »Sie hat so etwas Verschlagenes an sich. Inzwischen glaube ich ihr die Geschichte von der Zwangsheirat nicht mehr und ich bereue es, dass ich sie hier angeschleppt habe. Ich hatte einfach spontan Mitleid mit ihr und habe mich blenden lassen.«
»Und warum glaubst du ihr jetzt nicht mehr?«
»Nur so ein Bauchgefühl. Weibliche Intuition«, setzte sie hinzu.
»Das nennt man auch Rumgezicke.«
Antonia antwortete nicht. Sie war enttäuscht und gekränkt. Sie hatten das Friedhofstor erreicht, schweigend überquerten sie die Straße und gingen auf das Haus zu.
Ich werde Katie jetzt gleich von dem Geld erzählen, beschloss Antonia, als sie deren Fahrrad neben ihrem neuen roten Flitzer stehen sah. Sie brauchte jetzt dringend eine Verbündete. Robert kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel, aber da wurde die Tür von innen geöffnet und Katie stand vor ihnen. Sie war blass wie ein Chicoree und zitterte am ganzen Körper.
»Was ist los?«, fragte Robert.
»Es… es war jemand da. Ein Mann, der brüllte hier rum, wegen Selin…«
»Wo ist sie?«, rief Robert erschrocken.
Katie zuckte mit den Schultern und bedeutete ihnen mitzukommen. Sie folgten ihr über den Weg aus bemoosten Sandsteinplatten, die der Gärtner kürzlich freigelegt hatte, bis zum Schuppen. »Dahinten«, sagte Katie mit erstickter Stimme.
Robert und Antonia bogen um die Ecke, Katie blieb, wo sie war.
Antonia schrie auf, als sie den Toten sah. Er lag zusammengekrümmt auf der Seite und es war keine Frage, woran er gestorben war: Herrn Petris Heckenschere steckte in seiner Brust, bis fast zu der Stelle, an der sich die langen Scherenhälften kreuzten. Um die Einstichstelle herum hatte sich das hellblaue Hemd mit Blut vollgesogen, ein Schwarm bunt schillernder Fliegen kroch darauf herum. Das Hemd war hochgerutscht, über dem Gürtel wurde weißes Puddingfleisch sichtbar. Robert wandte sich ab, seine Augen waren weit aufgerissen. Er atmete einmal tief durch und sagte in bemüht ruhigem Tonfall zu Katie: »Was ist passiert?«
»Er kam zuerst zur Haustür und brüllte rum, Selin solle rauskommen. Ich hab mich hier versteckt, weil ich Schiss hatte. Dann ist er um die Ecke gekommen, in den Garten, er hat durch die Fenster geguckt und wieder rumgeschrien, er war total wütend. Und dann stand er plötzlich vor mir, hat mich angeschrien, ich solle ihm sagen, wo sie ist, und auf einmal ist Selin aufgetaucht. Sie hat ihn angesprochen, und als er sich zu ihr umgedreht hat, hat sie ihm die Schere in die Brust gestoßen. Das ging blitzschnell! Er ist zusammengeklappt und ich bin weggerannt. Das war vor etwa einer halben Stunde.« Katies Stimme bebte und sie vermied es, den Toten anzusehen.
»Und dann?«, fragte Antonia. In ihrem Kopf rasten die Gedanken und ihre Stimme klang, als hätte sie gerade einen Hundertmetersprint hinter sich.
»Ich hab mich in meinem Zimmer eingeschlossen. Ich wollte nicht die Polizei holen –
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