Röslein stach - Die Arena-Thriller
verstanden hatte. War das einer, der nach Selin suchte, einer von ihrer Sippschaft? Aber würde einer von ihren Leuten nicht eher auf Türkisch nach ihr rufen? Nicht unbedingt. Cetin, der Tontechniker aus ihrer Firma, redete akzentfrei Deutsch und behauptete, kaum Türkisch zu können. Selin sprach ja auch fast ohne Akzent, nur ihr S klang etwas verwaschen. Sollte sie nach vorne gehen und nachsehen? Oder sich lieber hier verstecken und warten, bis der wütende Kerl wieder abzog? Verdammte Scheiße, ich hab es doch gewusst, dass es mit dieser Selin Stress geben wird! Aber nein, Robert musste ja den Gutmenschen spielen und jetzt, wo’s brenzlig wird, ist natürlich wieder keiner da!
Das Geschrei hatte aufgehört. War der Kerl gegangen? Hoffentlich. Aber noch während Katie, hinter dem Holunderstrauch verborgen, sich das fragte, kroch ein langer Schatten über den Rasen.
Kommissar Daniel Rosenkranz wuchtete zwei Stapel Akten auf den Schreibtisch seiner Vorgesetzten. »Das sind die Fälle von vermissten Mädchen der letzten fünfzehn Jahre. Und das hier…«, er wies auf den kleineren Stapel, »… sind die ungeklärten Todesfälle. Weiter zurück bin ich noch nicht gekommen. Ich mache jetzt Feierabend. Ich habe einen Termin beim Friseur.«
»Schon gut, das reicht erst mal«, sagte Petra Gerres. »Danke dir.«
»Wozu brauchst du die eigentlich?«
Die Kommissarin erklärte es ihm und fügte hinzu: »Es ist nur so ein Gefühl…«
»Aha«, höhnte Rosenkranz und strich sich durch seine blonden Locken. »Weibliche Intuition, was?«
»Intuition ist weder männlich noch weiblich, es ist die Stimme unseres Unterbewusstseins, das mehr wahrnimmt, als wir glauben. Auch Männer wären gut beraten, wenn sie öfter darauf hören würden«, belehrte Petra ihren jüngeren Kollegen.
»Das brauchen wir nicht«, erwiderte Daniel. »Wir Kerle haben nämlich etwas, das nennt sich Verstand.«
»Raus!«, schnaubte Petra Gerres.
»Schönes Wochenende«, grinste er und war schon aus der Tür.
Petra holte sich noch einen Becher Kaffee, ehe sie sich daranmachte, den Inhalt der Akten zu sichten.
Sie nahm sich zuerst den Stapel der Vermisstenakten vor. Es waren zehn. Sie ging methodisch vor. Bei vier der Mädchen lag der Verdacht nahe, dass sie von zu Hause ausgerissen waren: Sie hatten ihre Papiere, oft auch Geld und ein paar Kleidungsstücke mitgenommen. Zudem gab es Aussagen von Eltern oder Freunden, dass es entweder kurz vor dem Verschwinden oder auffallend häufig Streit in den Familien gegeben hatte. Aus den Akten ging nicht hervor, ob die Mädchen irgendwann wieder aufgetaucht waren.
Sie konzentrierte sich auf die sechs verbliebenen Fälle, betrachtete die Fotos der Mädchen und verglich sie mit dem der ermordeten Sonja Kluge; eine zarte Blonde mit langem Haar und offenen Gesichtszügen. Petra hätte gewettet, dass sie mindestens neunzig Prozent aller Männer attraktiv finden würden. Sie könnte ja morgen mal einen Test mit Daniel Rosenkranz machen.
Petra Gerres hatte es in ihrer Karriere noch nicht allzu oft mit Serientätern – zumindest nicht mit Serienmördern – zu tun gehabt, aber natürlich kannte sie die einschlägige Literatur. Es galt demnach, ein gemeinsames Merkmal zu finden. Petra wollte erst einmal nach dem Offensichtlichen suchen: jung und hübsch als primäres Kriterium und eventuell blond.
Auf Dagmar Körner, einundzwanzig, aus Hildesheim, traf dies alles schon mal zu, allerdings trug sie ihr blondes Haar sehr kurz. Sie war zum letzten Mal am 16. Mai 1996 auf einer Raststätte an der A 7 in Richtung Norden gesehen worden. Laut Aussage einer Freundin hatte sie per Anhalter nach Dänemark reisen wollen, wo ihr Freund studierte. Es gab noch eine verschwundene Tramperin, 1998, doch das Mädchen hatte dunkelbraune Locken und wirkte etwas plump. Petra legte ihre Akte vorerst einmal zur Seite.
Von den verbliebenen vier Mädchen passten zwei in das Raster, wobei die achtzehnjährige Laura Schmidt aus Laatzen, einem Vorort von Hannover, verschwunden am 26. Juli 2004, langes rötliches Haar hatte und die zweiundzwanzigjährige Karola Bergmann aus Hannover-Linden, vermisst seit dem 1. September 2008, nussbraunes. Aber beide waren attraktiv gewesen und noch etwas fiel auf: Beide Mädchen waren auf dem Rückweg vom Sport beziehungsweise einem Besuch bei Freunden verschwunden und alle zwei waren mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Im Fall von Laura Schmidt hatte man das Rad zwei Jahre danach bei einer
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