Rolandsrache
da war nichts. Er lag bewegungslos da. Heinrich schob sie zur Tür, löschte das Licht, und einen Moment später verließen sie das Zimmer.
***
Sie stiegen in die Katakomben des Doms hinab, die tief unterhalb Bremens verliefen. Es war dunkel und feucht, und der Geruch nach Moder und Fäulnis raubte Anna den Atem. Überall huschten kleine schwarze Schatten entlang, meistens jedoch auf der Flucht vor ihrer Fackel. Ratten! Wasser lief in kleinen Rinnsalen aus den Wänden, formte sich am Boden zu Pfützen, und jeder Schritt hallte von den Mauern wider. Die Gänge waren verzweigt, doch Heinrich fand sicher den Weg. Nach einiger Zeit erreichten sie einen kleinen Schacht, der sie ins Freie führte. Anna stellte erstaunt fest, dass sie weit außerhalb der Stadtmauer waren.
»Dieser Tunnel wurde angelegt, damit der Erzbischof gefahrlos fliehen kann, wenn Bremen Gefahr droht«, erklärte Heinrich, als er ihr erstauntes Gesicht bemerkte. Anna sah sich um. In der Ferne brannten die Fackeln des jetzt geschlossenen Bischofstors, und sie konnte sogar die schwachen Umrisse der Wachen ausmachen, die auf Patrouille waren. Sehnsüchtig blickte sie hinüber, doch geknebelt und gefesselt war eine Flucht unmöglich.
»Es wird ein weiter Weg. Besser, wir bleiben nicht zu lange hier.« Mit den Worten griff Heinrich ihren Arm und führte sie durch die hereinbrechende Nacht.
Stundenlang wanderten sie über Felder und Wiesen und durchquerten Wälder. Ihr Weg führte sie immer weiter von zu Hause weg in Richtung Küste. Immerzu musste Anna an Claas denken, der für sie sein Leben gelassen hatte. Viele Stunden ihres Weges hatte sie leise um ihn geweint und unzählige Tränen vergossen, Tränen, für die sie jetzt keine Kraft mehr hatte. Der Strom war versiegt. Eine tiefe Leere machte sich in ihr breit, und ein anderes Gefühl gesellte sich dazu. Unbändiger Hass!
Bald würde der neue Tag beginnen, der erste Silberstreifen zeigte sich bereits am Horizont.
Die Kälte, die sie anfangs zittern ließ, spürte sie seit Stunden nicht mehr, dafür standen jetzt kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn. Ihr mühsamer Weg verlief fernab der Wege, ohne dass sie durch eine Siedlung kamen. Anna hatte das Gefühl, sie wären im Augenblick die einzigen Menschen auf der Welt.
Die Wümme überquerten sie sogar schwimmend, da die nächste Brücke zu weit entfernt war, wie Heinrich behauptete. Er half Anna aus dem Gewand und brachte dieses trocken über seinem Kopf ans andere Ufer. Das Wasser war kalt, und Anna begann, mit den Zähnen zu klappern. Sie war froh, wieder in die wärmende Tracht hineinschlüpfen zu können, doch ihr Unterkleid klebte klatschnass am Leib. Mit jeder Stunde wurden ihre Füße schwerer und wollten irgendwann nicht mehr gehorchen, sie strauchelte immer öfter. Endlich hielt Heinrich an.
»Ich sehe, du bist erschöpft. Bitte verzeih, dass ich dich so quäle, aber je weiter wir kommen, desto besser, denn sie würden uns nicht verstehen. Lass uns hier rasten.«
In den letzten Stunden hatte Anna immer deutlicher bemerkt, dass Heinrich allen Ernstes zu glauben schien, sie würde bei ihm bleiben. Dabei hoffte sie nur auf eine Gelegenheit, ihm zu entkommen.
Mechthild hatte ihr einmal erzählt, einem Verrückten solle man nicht widersprechen, da er sonst sehr gefährlich werden könne. Und gefährlich war Heinrich, das hatte er ausreichend bewiesen.
Das wärmende Feuer tat Anna gut. Nachdem Heinrich sich umgesehen hatte, löste er ihren Knebel.
»Ich hätte es schon früher getan, aber du gibst mir sicher recht, dass wir nichts riskieren durften.«
Annas Mund war taub, und sie bewegte ihren Kiefer unter Schmerzen hin und her. Fürsorglich reichte Heinrich ihr einen Wasserschlauch, aus dem er selbst schon getrunken hatte – es war also unwahrscheinlich, dass er Gift enthielt. Durstig trank sie, und langsam kam das Gefühl in ihren Mund zurück.
»Wohin wirst du uns bringen?« Die Frage brannte ihr schon die ganze Zeit auf der Seele.
»Wir gehen nach Helgoland. Dort wird es sich gut leben lassen.«
»Helgoland?«, fragte sie verwundert. »Dort sollen doch die Vitalienbrüder ihr Versteck haben.«
»Die scheren uns nicht. Im Gegenteil, niemand wird uns auf der Insel fragen, wer wir sind oder woher wir kommen. Es gibt dort kein Gesetz, wie du es aus Bremen kennst. Das Gesetz machen die Menschen dort selbst. Bremen wird uns dort nicht vermuten.« Heinrich kramte in seinem Bündel.
»Wirst du mich dort anketten wie einen gemeinen Dieb?
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