Rolandsrache
Und wovon willst du uns ernähren? Oder hast du vor, ein Pirat zu werden?« Der Gedanke war so absurd, dass Anna es sich verkneifen musste, ihn auszulachen. Unter gestandenen Männern würde er nie auch nur den Hauch einer Chance haben, sich zu behaupten.
»Gott bewahre, nein. Dich anzuketten liegt mir fern. Außer …«, er legte den Kopf schief und musterte sie, »… du gibst mir einen Grund dafür. Ich habe genug Gold bei mir. Die Kirchen sind reich, weißt du. Wenn es eines Tages aufgebraucht ist, kann ich mich als Schreiber verdingen. Ich spreche und schreibe mehrere Sprachen, das ist durchaus ein Vorzug. Die meisten Menschen, die dort leben, können nicht schreiben. Du musst dich also um nichts sorgen, außer um mich, deinen Ehemann, und unsere Kinder.«
Nun lachte Anna hysterisch los. Sie legte alle Verachtung, die sie aufbringen konnte, in ihre nächsten Worte: » Dich werde ich nie heiraten.«
»Das musst du auch nicht. Die Menschen dort halten uns sicher für Eheleute, und die Wahrheit wird nie ans Licht kommen. Es würde sie auch nicht kümmern, diese Leute sind einfältig. Also sorge dich nicht, mein Liebchen.«
Er holte etwas Brot und Käse aus der Tasche hervor, teilte es und gab ihr je eine Hälfte.
»Ich habe keinen Hunger.« Mit Bestimmtheit schob sie seine Hand beiseite.
»Aber du musst etwas essen, oder möchtest du, dass ich dich füttere?« Erneut reichte er ihr die Mahlzeit, und Anna riss sie ihm angewidert aus der Hand. Lustlos nagte sie an beidem herum, bis sie vor Müdigkeit kaum noch die Augen offenhalten konnte und in einen unruhigen Schlaf fiel.
Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, brachen sie ihr Lager ab und setzen den beschwerlichen Weg fort. Die Auenlandschaft wurde immer unwegsamer. Kalte Pfützen und Flüsse schlängelten sich um unzählige Graserhebungen. Als Anna erneut stürzte und sich mit den wieder gefesselten Händen nicht abfangen konnte, schlug sie sich das Knie auf.
Nun sah Heinrich ein, dass die Handfessel sie nur behinderte. »Ich nehme sie dir ab, aber bitte, sei vernünftig.« Mahnend blickte er Anna in die Augen.
»Wie könnte ich etwas anderes tun.«
»Du gehst doch freiwillig mit mir?« Er sah sie durchdringend an.
»Was glaubst du?«
»Ich werde mit Rudolfus in Kontakt bleiben und ihm Nachrichten senden. Solange er von mir hört, dass alles in Ordnung ist, wird er sich ruhig verhalten. Also bedenke es gut, ehe du etwas machst, was dir später leidtun wird.«
Das war keine leere Drohung! Der Büttel würde also von Heinrich weiterhin bezahlt werden. Wie weit war er eingeweiht? Was würde er ihrer Mutter antun, wenn Heinrich sich nicht mehr meldete? Sie wollte es sich nicht vorstellen. Für Anna war die Erkenntnis ein weiterer Knebel, der sie an Heinrich band. Einen Fluchtversuch konnte sie jetzt nur noch wagen, wenn sie sicher sein konnte, rechtzeitig in Bremen anzukommen, um Schlimmes zu verhindern.
Sie schluckte mühsam. »Natürlich gehe ich freiwillig mit«, log sie.
»Ich sehe, wir verstehen uns gut.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen.
»Ist es noch sehr weit bis zur Küste?«
»Ich denke, morgen früh sind wir da.« Er löste die Fessel, und Anna spürte das Blut zurück in ihre tauben Hände fließen. Dann schlang er das Seil um ihre linke Hand, das Ende nahm er in die seine.
Wieder wanderten sie stundenlang. Der Himmel hatte sich zugezogen, und es regnete, als ein breiter Fluss ihnen den Weg versperrte.
Heinrich seufzte. »Wir werden erneut schwimmen müssen.«
In der Ferne sah Anna eine kleine Brücke, über die ein Wagen holperte, und deutete in die Richtung. »Gehen wir doch einfach da hinüber.«
Er sah sich um und schüttelte den Kopf. »Nein.« Er blieb standhaft bei seinem Vorhaben, niemandem zu begegnen, und erneut mussten sie in das eiskalte Wasser.
Jedes Mal, wenn sie in der Ferne Häuser sahen, machten sie einen großen Bogen, auch Straßen und Wege, die ihre Route kreuzten, wurden sorgsam umgangen. Anna bekam an diesem Tag keinen Menschen mehr zu Gesicht. Als sie abends nach einem Rastplatz Ausschau hielten, spürte sie, wie ihr das Atmen immer schwerer fiel und jeder Zug von einem stechenden Schmerz begleitet wurde. Jetzt nur nicht krank werden. Sie betete still zur Jungfrau Maria, und es war eins der innigsten Gebete, die sie je gesprochen hatte.
An der Weser fanden sie eine gute Stelle für ein Lager. Nachdem er ein Feuer entzündet hatte, zog Heinrich ein Messer
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