Rolf Torring 097 - Gefährliche Feinde
den Glanz ihrer unsterblichen Seele.
Wenn ihr Gott seines Körpers überdrüssig wird, ihn verläßt und stirbt, so vertritt ein erfahrener Mensch vorübergehend seine Stelle und sorgt für die Auffindung eines neuen Körpers, der sich zur Aufnahme der Gottheit eignet.
Die Priester lauschen, wohin sich die entschwundene Gottheit geflüchtet hat. Sie untersuchen die Geistesgaben Tausender von tibetanischen Kindern, bis sie ein Kind mit besonders hoher Geisteskraft, Verstandesschärfe, Lebhaftigkeit und Aufgeschlossenheit gefunden haben. Ein Kind, das — ein halbes Jahr alt — schon laufen konnte, mit einem Jahre im Besitz aller Zähne war, die Namen des Vaters und der Mutter aussprechen konnte, ein Knabe, der im vierten Lebensjahre eine leserliche Handschrift besaß, im sechsten Antworten gab, die aufhorchen ließen, und Urteile fällte, die nach eigenem Urteilsvermögen aussahen, in dem glaubten sie, die Seele der Gottheit wiedergefunden zu haben, der Gottheit, die — des alten Körpers müde — sich in ein junges, unverbrauchtes Leben flüchtete, um von hier aus die Erkennungszeichen vorzubereiten.
Vor einem solchen Kinde fallen die Priester nieder und hüllen es in ihre weiten Kutten. Sie bringen es in eine einsame Gegend, wo es sorgfältigen Unterricht genießt und wo man ihm die ihm zukommende Ehre erweist. Hier bleibt der Knabe so lange, bis der Augenblick gekommen ist, da ihn das gesetzliche Alter zur Wiederkunft als Gott verpflichtet."
„Eine gute Lehre, die Lehre von der Seelenwanderung, Herr Warren," meinte Balling. „Nur müßte sie etwas umgestaltet werden. In unserem Falle scheint mir, daß die Priester annehmen, daß in dem Körper der jungen Inderin eine Gottheit wohnt, aber — die junge Inderin will damit nichts zu tun haben, sondern sehnt sich nach ihrem Vaterhaus zurück."
„Ich nehme an, daß sie hier erst auf ihren göttlichen Beruf vorbereitet werden soll, um später anderswo eingesetzt zu werden. Das kann noch lange dauern. Inzwischen verliert sie alle weltliche Sehnsucht und alle nach der Außenwelt und dem normalen Leben eines Sterblichen gerichteten Wünsche und hat kein Verlangen mehr nach dem Elternhaus. Sie überzeugt sich allmählich selbst von ihrem göttlichen Wesen und glaubt an sich als Gottheit."
„Wenn wir uns in eine solche kultische Angelegenheit mischen, Herr Warren, und die Inderin befreien, werden wir die Rache der Priester zu fürchten haben."
„Das ist richtig, Herr Balling, aber wir können uns dadurch nicht zurückhalten lassen, einem jungen Mädchen die Freiheit wiederzugeben, nach der es verlangt"
„Eine eigenartige Lehre," meinte Balling nach längerem Nachsinnen. „Menschenleben spielen in einer solchen Lehre keine Rolle. Das Leben des Individuums, des einzelnen Menschen, gilt nichts."
„Weil der Kult gleichzeitig lehrt, daß alles vorausbestimmt ist und die Seele eines Menschen, sobald sie den Körper verläßt, sich wieder eine neue, ganz junge Hülle sucht."
Wieder dachte Balling lange nach, dann sagte er:
„So ist die Unsterblichkeit jedes einzelnen Menschen gesichert."
„Der Glaube kennt eine sehr hohe Strafe, Herr Balling. Eine Seele kann verdammt werden, dann muß sie unruhig in der Luft umherirren und einen Körper zu finden suchen, von dem sie Besitz ergreifen kann. Der Zwischenzeitraum würde dem Fegefeuer der christlichen Lehre vergleichbar sein."
„Es ist selbstverständlich, daß wir die junge Inderin befreien," sagte Balling nach einer Weile, „selbst wenn die Priester uns für die Tat Rache schwören. Herr Torring, zu welchem Zeitpunkt wollen Sie die Inderin befreien?"
„Da wir in zwei Tagen sterben sollen, müssen wir in der kommenden Nacht von hier verschwinden. Am besten wird es sein, daß sie im Anschluß an die Befreiung Bhutan sofort verläßt, da sie sonst doch wieder in die Hände der Priester fallen würde."
„Ich nehme sie mit, Herr Torring. Ich will von hier nach Sumatra, wo ich einem guten Bekannten einen Besuch versprochen habe."
„Sie wollen auch nach Sumatra, Herr Balling?" rief ich freudig überrascht. „Wir auch. Auf Sumatra haben wir unseren treuen Kameraden Pongo getroffen."
„Davon müssen Sie mir noch erzählen, Herr Warren. Was gibt es, Herr Torring?"
Rolf hatte warnend die Hand erhoben. Gleich darauf machte sich jemand an der Tür zu schaffen. Sie wurde langsam aufgeschoben. Im Scheine
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