Rolf Torring 121 - Der Rätsel-Gott
Bodenspalt kamen, aus dem die Schwerter hervorgeschossen waren, blieben wir stehen. Es hätte ja sein können, daß --
Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als die Schwerter tatsächlich hoch fuhren und uns den Weg zum Götterbild versperrten.
Der Chinese erhob sich aus der knienden Stellung, breitete die Arme aus und murmelte ein paar Worte, die wir nicht verstanden. Dann wandte er sich zu uns um und blickte uns aus hasserfüllten Augen an.
Nach einer Weile sprach er uns in gutem Englisch an:
„Ihr seid hier eingedrungen, Fremdlinge, um mir meine Gottheit zu rauben, meine Gottheit, mit der ich nun schon seit sechzig Jahren allein in der alten Klosterruine lebe. Ich habe euch die Göttin absichtlich gezeigt, damit ihr wißt, weshalb ihr sterben müsst. Kein Mensch darf sie außer mir sehen. Und wenn ich einst sterbe, soll sie zusammen mit mir vergehen.
Ich wollte euch schon gestern sterben lassen. Wenn ich aber in das Gesicht meiner Göttin sehe, werde ich weich und kann keinem Wesen etwas zuleide tun.
Deshalb will ich euch leben lassen. Aber ihr sollt nicht mehr leben für die Welt da oben, ihr sollt leben hier unten bei mir. Ich werde euch mit allem versorgen, was ihr euch wünscht. Euch wird nichts fehlen — als die Freiheit. Warum habt ihr meinen Frieden hier gestört?"
„Wir suchen nach dem ,Rätselgott," erwiderte Rolf. „Ist es recht von Euch, daß Ihr die Gottheit anderen Menschen vorenthaltet? Ist Eure Göttin damit einverstanden, daß nur Ihr sie verehrt? Ihr seid egoistisch und wollt nicht, daß auch andere Menschen den Frieden genießen, den die Gottheit spendet, wenn man ihr ins Antlitz schaut. Wisst Ihr denn überhaupt, wer diese Göttin ist?"
Das Gesicht des alten Chinesen veränderte sich auffällig. Der Haß wich aus seinem Blick. Er schaute sich fast ängstlich nach allen Seiten um und sah uns mit weit aufgerissenen Augen an. Auf Rolfs letzte Frage antwortete er nach einer Weile:
„Wer die Göttin ist, weiß niemand. Man nennt die Gottheit nur den ,Rätselgott."
„Ich könnte Euch vielleicht erklären, welche Bewandtnis es mit Eurer Gottheit hat, welcher Gesinnung sie ist und was sie von den Menschen verlangt, die an sie glauben. Vor allem duldet Eure Göttin nicht, daß Ihr tötet."
„So kennt ihr die Göttin?" fragte der Chinese erfreut. „Sagt schnell, wer sie ist, und ich will es euch ewig danken."
„War das der Anfang Eures Dankes, daß Ihr uns in einen schäbigen Keller einsperrtet? Soll es das Ende des Dankes sein, daß Ihr uns für alle Zukunft vom Licht der Sonne fernhalten wollt?"
Der Chinese schwieg auf die anklagenden Worte hin. Rolf fuhr nach einer Weile fort: „Ich sage Euch erst wer Eure Göttin ist, wenn Ihr uns das Versprechen gebt daß wir frei sind und ungehindert gehen können, wohin wir wollen."
Der alte Chinese blickte enttäuscht vor sich nieder. Erst nach einer ganzen Weile hob er wieder den Kopf und fragte:
„Und ihr könnt mir schwören, daß ihr die Göttin kennt und wißt, was sie mir vorschreibt?"
„Wir können es, sogar bei dieser Göttin können wir es schwören," beteuerte Rolf.
Die Antwort kam für mich sehr überraschend, denn bei dem Ernst, mit dem Rolf gesprochen hatte, nahm ich nicht an, daß er nur eine Ausrede brauchte, um eine Möglichkeit zur Flucht zu haben. Durch welchen Zufall hatte er die Göttin kennen gelernt?
„Ist es auch verboten, Menschen gefangen zuhalten," wenn sie meine Einsamkeit stören?" fragte der Chinese weiter.
„Eure Göttin verbietet es," antwortete Rolf. „Ich weiß aber, daß Ihr seit langer Zeit noch einen Menschen in Gefangenschaft haltet, nur weil er Eure Göttin suchte. Bedenkt, daß er eine Tochter hat, die um ihn weint. Wisst Ihr nicht, was Menschenliebe, was Nächstenliebe ist?"
Der Chinese schüttelte den Kopf. „Nächstenliebe?" fragte er erstaunt. „Ich lebe hier schon seit sechzig Jahren, ganz allein. Ich will über all das nachdenken, was ihr mir gesagt habt. Geht in euren Raum zurück, ich werde euch meine Entscheidung bald mitteilen."
Immer noch bewegten sich die Schwerter vor uns, die uns von dem Chinesen trennten, mit größter Geschwindigkeit.
Rolf folgte der Weisung des Alten, machte kehrt und verließ mit uns den Raum. Still setzte er sich in unserem Gefängnis auf die Erde und dachte vor sich hin. Ab und zu huschte ein Lächeln der
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