Rollende Steine
dem Ver-
such, aus dem Keller zu fliehen.
Der Bibliothekar hatte ein Rohr ohne sichtbare Anstrengung zu einem
U gebogen.
Glod ging zur Tür und sah in den Korridor. Ein zertretener Zaube-
rerhut lag auf den Fliesen.
»Interessant«, sagte er. »Die Frage ›Wo steckt der Bibliothekar?‹ hätte
vermutlich zu der Antwort geführt: ›Hau ab, du blöder Zwerg.‹ Es
kommt eben darauf an, richtig mit den Leuten umzugehen.«
Er kehrte in die Werkstatt zurück und nahm neben dem Orang-Utan
Platz, der dem Rohr gerade eine weitere Kurve hinzufügte.
»Was machst du da?« fragte Glod.
»Uugh-uugh-UGH!«
»Mein Vetter Modo ist hier Gärtner«, sagte Glod. »Er nennt dich einen
guten Pianisten.« Er beobachtete die Hände, die damit fortfuhren, dem
Rohr eine neue Form zu geben. Sie waren groß. Und der Bibliothekar hatte gleich vier davon. »Ich bin sicher, daß er sich nicht geirrt hat.«
Der Orang-Utan griff nach einem Stück Holz und biß versuchsweise
hinein.
»Was hältst du davon, wenn du uns heute abend in der Trommel Gesellschaft leistest und das Pianoforte spielst?« fragte Glod. »Mit ›uns‹ meine
ich mich selbst, Klippe und Buddy.«
Der Bibliothekar sah ihn aus braunen Augen an, nahm ein anderes,
längeres Stück Holz und zupfte an imaginären Saiten.
»Ugh?«
»Ja, genau«, bestätigte Glod. »Der Junge mit der Gitarre.«
»Iiek.«
Der Bibliothekar schlug einen Salto rückwärts.
»Uugh uugh -uugha-UUUgha-UUGH!«
»Wie ich sehe, bist du schon richtig in Schwung«, sagte Glod.
Susanne sattelte das Pferd und stieg auf.
Jenseits von Tods Garten erstreckten sich Kornfelder, und ihr goldener
Glanz war die einzige Farbe in der Landschaft. Beim Gras (schwarz) und
den Apfelbäumen (schimmerndes Schwarz auf schwarzem Grund) hatte
Tod nicht viel Geschick bewiesen. Die vol e Farbtiefe, die al en anderen
Dingen fehlte, kam allein im Kornfeld zum Ausdruck. Die Getreidehal-
me neigten sich hin und her, wie von einem sanften Wind gestreichelt.
Aber es rührte sich kein Lüftchen.
Aus irgendeinem Grund schien das Korn eine besondere Rol e für Tod
zu spielen.
Ein Pfad führte durch das Feld – sechs- oder siebenhundert Meter weit
– und endete dann abrupt. Jemand schien ihn gelegentlich zu beschrei-
ten, um dann mitten im Feld stehenzubleiben und sich umzusehen.
Binky trabte über den Weg, verharrte am Ende und drehte sich um,
ohne eine einzige Ähre zu berühren.
»Ich weiß nicht, wie du es anstellst«, flüsterte Susanne dem Hengst ins
rechte Ohr. »Aber bestimmt kannst du es. Und du weißt, wohin ich
möchte.«
Das Pferd schien zu nicken. Albert hatte Binky ein gewöhnliches Roß
genannt, aber wenn man jahrhundertelang von Tod geritten wurde, lern-
te man sicher das eine oder andere. Außerdem schien der Hengst von
Anfang an ziemlich intelligent gewesen zu sein.
Er setzte sich wieder in Bewegung, trabte und galoppierte schließlich.
Und dann flackerte der Himmel einmal.
Susanne hatte mehr erwartet. Blitzende Sterne, die plötzlich lange Strei-
fenmuster in al en Regenbogenfarben bildeten… nicht nur ein banales
Flackern. Es schien einer Reise, die über eine Kluft von fast siebzehn
Jahren hinwegführte, nicht angemessen zu sein.
Das Kornfeld existierte nicht mehr – besser gesagt, noch nicht –, doch der Garten bot den gleichen Anblick. Susanne sah seltsam beschnittene
Bäume und einen kleinen Teich, in dem ein Fischskelett schwamm. In
anderen Gärten gab es fröhliche Zwerge, die bunte Schubkarren scho-
ben; hier standen kleine Skelette, ausgestattet mit schwarzen Umhängen
und Sensen. Manche Dinge änderten sich nicht.
Der Stal bot eine Überraschung: Binky stand dort.
Er wieherte leise, als Susanne ihn in eine leere Box führte, neben sei-
nem jüngeren Selbst.
»Ihr kennt euch bestimmt«, sagte sie. Eigentlich hatte sie nicht damit
gerechnet, daß es funktionierte, doch als sie nun darüber nachdachte…
Warum nicht? Die Zeit war etwas, das anderen Leuten zustieß, oder?
Sie betrat das Haus.
NEIN. ICH DARF KEINEN MENSCHLICHEN APPELLEN
GEHORCHEN. ICH KANN ZU NICHTS GEZWUNGEN
WERDEN. ICH TREFFE NUR DIE ENTSCHEIDUNGEN, DIE
ICH FÜR RICHTIG HALTE…
Susanne schlich an den mit Lebensuhren gefül ten Regalen entlang.
Niemand bemerkte sie. Wer Tod bei einem Kampf zusieht, achtet nicht
auf Schatten im Hintergrund.
Davon hatten sie ihr nie erzählt. Darüber schwiegen Eltern immer. Ihr
Vater mochte Tods Lehrling sein und ihre Mutter seine
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