Rom: Band 1
ihn zu betrachten, indem er in langsamem, sehr höflichem Ton weiter sprach.
»Sie sind also gestern morgen angekommen? Sie waren sehr ermüdet, nicht wahr?«
»Eure Eminenz sind zu gütig ... Ja, ich war ganz zerbrochen, vor Aufregung sowohl wie vor Ermüdung. Diese Reise hat für mich eine so ernste Bedeutung.«
Der Kardinal schien die wichtige Frage nicht gleich bei den ersten Worten berühren zu wollen.
»Gewiß, es ist ja doch recht weit von Paris nach Rom. Heutzutage geht es noch ziemlich rasch. Aber früher, was war das für eine endlose Fahrt! – Ich war ein einzigesmal in Paris,« fuhr er langsamer fort. »O, es ist schon lange her, beinahe fünfzig Jahre! Und ich brachte kaum eine Woche dort zu ... Ja, ja, eine große, schöne Stadt! Viele Menschen auf den Straßen, sehr gut erzogene Leute, ein Volk, das wunderbare Dinge geleistet hat. Man darf selbst in der traurigen aktuellen Zeit nicht vergessen, daß Frankreich die älteste Tochter der Kirche war ... Seit dieser einzigen Reise habe ich Rom nicht verlassen.«
Und er schloß seinen Satz mit einer Geberde ruhiger Geringschätzung. Wozu Reisen in das Land des Zweifels und der Empörung unternehmen? Genügt denn nicht Rom, das weltbeherrschende Rom, die ewige Stadt, die zur geweissagten Zeit wieder die Hauptstadt der Welt werden muß?
Pierre dachte stumm an den gewaltthätigen, streitsamen Fürsten von einst, der nun dahin gekommen war, diese einfache Sutane zu tragen; er fand ihn schön in seiner stolzen Ueberzeugung, daß Rom sich selbst genüge. Aber dieser Eigensinn der Unwissenheit, dieser Vorsatz, die anderen Nationen nur in Betracht zu ziehen, um sie als Vasallen zu behandeln, beunruhigten ihn, als er an den Beweggrund dachte, der ihn hierher führte. Da nun ein Schweigen entstand, glaubte Pierre mit einer Huldigung zur Sache zurückkehren zu müssen.
»Ehe ich irgend einen Schritt unternehme, will ich Eurer Eminenz meine Hochachtung zu Füßen legen, denn Eure Eminenz sind meine einzige Hoffnung, und ich stehe Eure Eminenz an, mich gütigst beraten und leiten zu wollen.«
Nun lud Boccanera ihn mit einer Handbewegung ein, auf einem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Gewiß, mein lieber Sohn, ich weigere mich nicht, Ihnen mit Rat beizustehen. Das bin ich jedem Christen schuldig, der recht zu handeln wünscht. Nur wären Sie sehr im Unrecht, wenn Sie auf meinen Einfluß rechnen würden: er ist gleich Null. Ich lebe vollständig abseits, kann und will nichts verlangen ... Aber das soll uns nicht hindern, ein wenig zu plaudern.«
Er ging sehr offen, ohne jeden Hinterhalt auf die Frage ein. Sein unabhängiger, mutiger Geist schreckte vor der Verantwortlichkeit nicht zurück.
»Sie haben ein Buch geschrieben, nicht wahr? ›Das neue Rom‹, glaube ich? Und Sie kommen hierher, um dieses Buch, das der Indexkonkregation vorgelegt ward, zu verteidigen ... Nun, ich habe es noch nicht gelesen. Sie begreifen, daß ich nicht alles lesen kann. Ich lese bloß die Bücher, die mir die Kongregation, der ich seit vorigem Jahre angehöre, zuschickt, und auch da begnüge ich mich oft mit dem Rapport, den mein Sekretär für mich verfaßt ... Aber meine Nichte Benedetta hat Ihr Buch gelesen und sagte mir, daß es nicht uninteressant wäre. Sie sei anfangs etwas erstaunt und dann sehr gerührt gewesen ... Ich verspreche Ihnen also, es durchzulesen und die beanstandeten Stellen mit der größten Sorgfalt zu studiren.«
Pierre ergriff die Gelegenheit, um mit seiner Verteidigung zu beginnen. Er hielt es für das beste, sofort seine Pariser Referenzen anzugeben.
»Eure Eminenz begreifen meine Verblüffung, als ich erfuhr, daß mein Buch verfolgt werde ... Der Herr Vicomte Philibert de la Choue, der mir wohlwollend gesinnt ist, läßt nicht ab, zu wiederholen, daß ein solches Buch für den Heiligen Stuhl so viel wert sei wie die beste Armee.«
»O, de la Choue, de la Choue!« wiederholte der Kardinal mit einem wohlwollend geringschätzigen Verziehen des Mundes. »Ich weiß, daß de la Choue sich für einen guten Katholiken halt. Sie wissen, ist ein wenig mit uns verwandt, und wenn er im Palast absteigt, so sehe ich ihn gerne – unter der Bedingung, daß über gewisse Gegenstände nicht gesprochen wird, über die wir uns nie einigen könnten ... Aber schließlich ist der Katholizismus des trefflichen und guten de la Choue mit seinen Korporationen, seinen Arbeitervereinen, seiner gereinigten Demokratie und seinem unklaren Sozialismus nichts als
Weitere Kostenlose Bücher