Rom kann sehr heiss sein
Gemälde oder besser eine Installation, die man als Gesamtkunstwerk empfand und deren Urheber, der Künstler, in einem fleckigen Arbeitsanzug mittendrin als Teil der Komposition fungierte. Alfredo il Biciclettista. Ein kleiner Halbgott der Menschlichkeit, so kam er mir vor. Er hatte mich gleich wieder erkannt und strahlte, während er sich an einem uralten Messingungetüm von Espressomaschine zu schaffen machte, die dampfend und röchelnd einen nach Kettenöl schmeckenden Espresso produzierte. »Ich wusste doch, dass du irgendwann hier landen wirst. Ich vermute, ihr seid auf der Flucht vor dem Establishment, Freunde.«
»So kann man es sagen. Wenn es auch das Establishment des Bösen ist«, sagte Einar.
»Es gibt kein anderes«, sagte Alfredo.
Beim Kaffee begannen wir, Alfredo ausführlich zu erzählen, was wir in Falsinis Labor gesehen hatten. »Einar hat Fotos. Wir gehen damit so schnell wie möglich an die Presse. Wir werden uns mit Journalisten der großen römischen Boulevardzeitungen treffen. Wenn die eine Sensation riechen, werden sie uns helfen«, sagte ich.
»Meine Freunde«, widersprach Alfredo, »ihr seid hier in einem besonderen Land. Wir haben seid zweitausend Jahren eine besondere Staatsform. Wir sind weder eine Diktatur noch eine Demokratie. Wir sind eine große Familie, und damit befinden wir uns in der schlimmsten Form von gegenseitiger Abhängigkeit. Wenn ein Winzer in Kalabrien einen Furz lässt, redet die Lega Nord von einem Gewitter. Wir sind wie die Kinder, die alles übertreiben. Hier liebt jeder jeden und hasst jeder jeden, und hier hat jeder jeden in der Hand. Wenn die Kirche und die Mafia an der Sache beteiligt sind, wie ihr vermutet, dann sind die Presse und die Polizei gekauft, und die Zeitungen werden allenfalls in einigen Tagen eine kleine Notiz über die Überführung eurer Särge in eure Heimat bringen. Falsini wird seine Menschenwerkstatt bis dahin längst geräumt haben, verlagert in einen anderen Keller. Nein, selbst wenn Journalisten oder gar die Polizei in seiner Villa auftauchen, man wird ihm nicht beikommen.«
»Dann müssen wir vom Ausland aus arbeiten«, sagte Einar. »Wir werden international Druck machen. Wir werden die Berner Verhältnisse ebenso an die Presse geben wie das, was wir hier aufgedeckt haben. HUBRO und die Leihmütteraffäre, das wird Staub aufwirbeln. Ich kenne zufällig einige Journalisten in einem freien Land namens Finnland. Dort wird man eine wunderbare, bebilderte Story zusammenkochen, die Falsini und seinen Helfern das Handwerk legt.«
»Fragt sich nur, wie wir euch zum Flughafen bringen«, sagte Alfredo, »ohne dass ihr in einen harmlosen, aber tödlichen Verkehrsunfall verwickelt werdet.«
Dann begann Alfredo, uns seine Pläne für ein faltbares Pedersen zu erläutern. »Die größte Herausforderung seit Beginn der Fahrradherstellung«, sagte er. So schwer es uns fiel, wir versuchten seine Gastfreundschaft zu honorieren, indem wir ihm interessiert zuhörten. Plötzlich sagte er: »Jetzt weiß ich, wie wir es schaffen können. Ich organisiere mit dem ›Verein der freien und unabhängigen Fahrradkommunisten‹ eine Demo. Wir werden mit unseren Rädern den Verkehr in Richtung Fiumicino lahm legen. Es sind 28 Kilometer Autobahn. Wir werden einen Pulk von über hundert Rädern bilden, euch mittendrin in den Trikots und Helmen unseres Vereins. Sein Emblem seht ihr hier. Ich habe es selbst entworfen.« Er zeigte auf ein Poster mit einer Friedenstaube, die auf einem Pedersen saß. »Und wisst ihr, was das Beste ist? Wir werden unter Polizeischutz fahren!«
Wir wohnten drei Tage in Alfredos Werkstatt. Der Rollladen blieb unten. Draußen hing ein Zettel, auf dem »Vorübergehend geschlossen« stand. Während unser Gastgeber an seinem faltbaren Pedersen arbeitete und hin und wieder telefonierte, um die Demo zu organisieren, saßen Einar und ich auf Fahrradsätteln und diskutierten. Oder ich zog mich in einen Winkel der Werkstatt zurück und versuchte, all das zu begreifen, was geschehen war. Tanner hatte Recht behalten, ich hatte sie wieder gesehen, aber in welcher Verzerrung, in welcher Verstümmelung all dessen, was ich geliebt hatte. Es war mir unerträglich, mir dieses Bild innerlich vorzustellen. Die damit verbundene Qual überschritt jedes Ausmaß an Gefühlen, zu dem ein Mensch fähig ist. Es wäre besser gewesen, ich hätte niemals diesen grauenvollen Anblick ertragen müssen, der so zerstörerisch war, dass mein Gedächtnis sich hinfort
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