Roman
wieder ändert er seine Meinung und legt das scharfe Ding zurück. Zum zweiten Mal hat mein Herz die Gelegenheit, seinen Job wieder aufzunehmen. »Aber vor ungefähr einem Jahrhundert hat sich der Fokus der Liga von der Jagd und der Vernichtung der Vampire zu deren Überwachung und Steuerung verschoben. Dem Zeitgeist entsprechend, nehme ich an, als Folge des weltweiten Siegeszugs der Bürokratie. Der Vollständigkeit halber sei nur erwähnt, dass die überwiegende Mehrheit der Vampire ganz wie die großen, natürlichen Räuber, etwa Bär und Wolf, nicht tötet.«
Das überrascht mich nicht sonderlich, angesichts der Tatsache, dass Shane ja von mir abgelassen hat. »Dann sind Vampire also nicht abgrundtief böse?«
»Wie bei den Menschen auch gibt es hier böse und gute Exemplare – und hauptsächlich solche, die in der Grauzone dazwischen liegen. Zugegeben: So viel Kraft und solch körperliche Schönheit zu besitzen, verwandelt manche von ihnen in Monster.« Einen Augenblick lang beißt David die Zähne aufeinander. Dann ringt er sich zu einem Lächeln durch. »Andererseits müssen Vampire zu ihrem eigenen Schutz brave Staatsbürger sein.«
»Wieso das denn?«
»Weil Polizeireviere Fenster haben.«
Scharf sauge ich Luft durch die Zähne. »Sonnenlicht, ja klar! Woher bekommen die Vampire eigentlich ihr Blut? Vom Metzger?«
»Nein, es muss schon menschliches Blut sein. Sie bekommen es entweder aus Blutbanken oder von Spendern, die es gern mögen, gebissen zu werden.«
»Was sind denn das für Freaks, die sich gern beißen lassen?«
Rasch blickt David woanders hin und läuft dabei rot an.
Oh. Verdammt.
David sucht sich eine sichelförmig geschwungene Nadel aus. »Jetzt sollte das Bein taub sein.«
Er lehnt mich zurück und drapiert die Decke so, dass die Sittsamkeit gewahrt bleibt. Außerdem sehe ich so nichts von dem, was er tut. Der erste Einstich der Nadel fühlt sich an, als stecke sie in der Haut von jemand anderem. Keine Schmerzen.
Vor Erleichterung seufze ich laut. »Wird eine Narbe zurückbleiben?«
»Keine schlimme, wenn ich es vermeiden kann.« Davids Gesicht ist eine Maske der Konzentration; niemand wäre darauf gekommen, dass er gerade nur wenige Zentimeter von meinem Allerheiligsten entfernt arbeitet.
»Noch mal zurück zur Liga«, sage ich, um die Anspannung, die in der Luft liegt, ein wenig abzumildern.
»Zu dem Zeitpunkt, als ich der Liga beitrat, war die Beseitigung von Vampiren eine absolute Ausnahme. Wir haben immer nur die eliminiert, die durchgedreht sind und eine Gefahr für die Allgemeinheit waren.«
»Sie meinen, wenn sie die Verbindung zu ihrer Lebenszeit verloren haben, wie es in der Broschüre erklärt wird.«
»Genau. Die Fibel und das Feldhandbuch sind für Agenten der Liga geschrieben worden.«
»Zu der Sie aber nicht mehr gehören, oder?«
David zögert, ehe er antwortet. »Ich bin aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, um mit der Eigentümerin zusammen den Radiosender zu betreiben.«
»Ah, der Eigentümer. Und der ist …«
»Entschuldigung. Eigentümerin. Es ist eine Sie. Sie heißt Elizabeth.« Einer von Davids Muskeln neben dem linken Auge zuckt. »Sie ist ein Vampir.«
»Aber warum will sie dann den Sender verkaufen? Da verlieren doch ihre Vampirkollegen ihre Jobs, oder nicht?«
»Und ihr Zuhause und möglicherweise auch ihre geistige Gesundheit.«
Mein Kopf zuckt hoch. »Ihre geistige Gesundheit?«
David unterbricht seine Näharbeit und schaut mir direkt in die Augen. »Sie verlieren mit dem Sender die einmalige Möglichkeit, in unserer Welt zu funktionieren, und zwar trotz beziehungsweise wegen ihres Problems, was die Zeitgebundenheit betrifft.«
»Darum geht’s? Um diese Sache, dass sie sich nicht von ihrer Lebenszeit lösen können? Tja, klar, ich nehme an, in Graceland werden nicht unbegrenzt viele Fremdenführer für die Nachttouren gesucht.« Ich tue so, als würde mich die Antwort auf meine nächste Frage nicht sonderlich interessieren: »Werden die DJ s denn sterben, wenn der Sender verkauft wird?«
»Nicht sofort.« David widmet sich wieder seiner chirurgischen Näharbeit. »Theoretisch leben Vampire ewig und werden dabei physisch immer stärker. Aber psychisch ist das anders – sie werden schwächer und gehen zugrunde.«
»Kann man das erkennen, so auf den ersten Blick, wenn man sie ansieht?«
»Zuerst nicht. Wenn man, sagen wir Shane oder Regina mit anderen Vampiren ihres Alters vergleicht, würde man keinen großen Unterschied ausmachen
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