Roman
werde Sie nie kennenlernen, wenn Sie jetzt kneifen.« Er dreht den Wasserhahn zu und trocknet sich die Hände ab. »Sie gelten für uns heute als krankgeschrieben. Der Tag wird also bezahlt, obwohl Samstag ist. Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann.«
»Das Mindeste, was Sie für mich tun können, ist jetzt zu gehen.«
»Ehe ich das tue: Soll ich Ihnen schnell noch etwas zu essen machen?« Er öffnet den Kühlschrank. »Oh-ha.« Seine Stimme hallt in der Leere der Kühlschrankfächer wider. »Vielleicht sollte ich uns ein paar Bagels holen.«
Leider grummelt es nun lautstark in meinem Magen. Ich drücke mir die Decke auf den Bauch. Nach allem, was der Scheißkerl von sich gegeben hat, nach allem, wozu er mich zwingen will … ach Scheiße, ich habe einfach Hunger!
»Sesambagel mit Ei und Käse.«
David reibt sich die Hände. »Gut. Bin gleich wieder da.«
»Cheddar-Käse. Und Wurst. Getrocknete-Tomaten-Bagel, falls sie kein Sesam mehr haben. Wenn sie Sesam haben, nehme ich sowohl als auch. Und einen großen Kaffee, drei Stück Zucker. Die Kenia-Mischung, wenn sie haben.«
Ich höre David leise »Studenten!« in den nicht vorhandenen Bart murmeln, während er meine Wohnung verlässt.
Sobald er gegangen ist, hinke ich zum Schrank im Flur. Mit einem heftigen Ruck zerre ich den Koffer unter einem vom Bügel gerutschten Mantel hervor und mache den Reißverschluss auf.
»Scheißdreck, verdammter!«
Es gab mal eine Zeit, da hatte ich eine Tasche mit allem Notwendigen gepackt, damit ich innerhalb von fünf Minuten aus einer Wohnung abhauen konnte. Ich war BEREIT . Keine Frage, damals hätte mich das Heimatschutzministerium als Musterbeispiel für das Bereitsein hingestellt.
Der Koffer hier und jetzt enthält immer noch die wichtigsten Papiere, von denen jemand wie ich allerdings nicht viele besitzt. Das letzte Jahr über habe ich ihn seiner Notfall-Unterwäsche, Notfall-TShirts und Notfall-Cracker beraubt – jedes Mal, wenn ich keine frische Wäsche oder nicht mehr genug Gemüse im Haus hatte.
Bequemlichkeit führt zu Zufriedenheit. Zufriedenheit führt zu Selbstgefälligkeit. Selbstgefälligkeit führt zu Sorglosigkeit. Diesen Ablauf hatten mir meine Eltern schon beigebracht, ehe ich die Abstammung Jesu Christi von König David mit allen Zwischenstationen eingetrichtert bekam. Aber vor anderen habe ich immer nur Letzteres heruntergebetet.
Ich schmeiße den beinahe leeren Koffer in mein Schlafzimmer. Eine Handvoll Zeugs aus jeder Schublade sollte reichen. Ein Gang ins Badezimmer mit einer alten Plastiktüte und ich habe die Toilettenartikel für einen ganzen Monat. Ich hinke zurück ins Schlafzimmer, so schnell wie es mir der Schmerz in meinem Bein erlaubt. Während ich in meine Lieblingsjeans steige, überkommt mich urplötzlich Erleichterung, weil ich kein Haustier zurücklassen muss.
In dem abgenutzten Regal liegen meine CD s wild verstreut, so, wie Shane sie gestern Abend zurückgelassen hat.
Ich erinnere mich an den Ausdruck in seinem Gesicht, als er sie sortierte, als ob etwas ihn lenke. Es war nicht seine Entscheidung, Peter Gabriel vor Godsmack einzusortieren. Etwas hatte ihn im Griff, und dieses Etwas trieb ihn weiter und weiter fort aus seiner eigenen Welt.
Ich wende mich von der Anlage ab. Warum sollte mich das interessieren?
Die Autoschlüssel liegen neben dem PC -Bildschirm. Als ich sie mir greife, fällt mir etwas ein, eine Kleinigkeit, die sich wie eine Schlinge um meinen Fuß legt.
Wenn ich jetzt abhaue, ist die Verbindung endgültig gerissen.
Ohne mich hinzusetzen, tippe ich auf die Leerzeichen-Taste, um den Computer aus dem Schlafmodus zu wecken. Der Monitor erwacht zum Leben. Er zeigt mir mein E-Mail-Programm, wo hinter dem Ordner M fett unterlegt eine 1 steht.
Ich klicke auf den Ordner.
Ciara, Liebling,
ich habe dir gesagt, dass sie mir wieder Internetzugang geben, wenn ich ein braves Mädchen bin. Und worin ich unübertroffen bin, ist, ein braves Mädchen zu sein. Ich bin sicher, für dich gilt dasselbe.
Habe ich dir von dem Foto erzählt, das ich von dir habe? Ich hab’s zwischen die Sprungfedern vom Bett meiner Zellengenossin über mir geklemmt, damit ich es als Letztes sehe, bevor das Licht ausgeht.
Auf dem Foto bist du sieben oder acht – damals war dein Haar so blond, dass es aussah wie ein Heiligenschein, wenn du in der Sonne gestanden hast. Du trägst dein rosafarbenes Osterkleid und hältst stolz deine neue Bibel in die Kamera. Du erinnerst dich doch bestimmt
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