Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
und Denkern berichtet, die sich ihre Bildung außerhalb des Schul- und Universitätsbetriebs erworben hatten. Erasmus verkündete, wahre Bildung werde nicht aus der Schule, sondern aus Büchern bezogen. Philosophierende Autoren wie Albert Camus und Stefan Zweig und gebildete Musiker wie Georges Brassens, Yves Montand und Jacques Brel hatten dem Schulwesen eher ablehnend gegenübergestanden.
Am liebsten hätte ich auch später nach Lust und Laune vom Baum des Wissens geerntet, doch die von der Universität Stockholm gewährten Stipendien verlockten mich schließlich zu einem Studium dort. Das hinderte mich aber nicht daran, mir mein eigenes Studienprogramm zusammenzustellen, das ganz auf meine Vorlieben, nämlich Philosophie und Musik, ausgerichtet war. Ich mag als Beispiel dafür dienen, wie Kinder durch zu viel Lesen vom rechten Weg abkommen, aber dennoch bin ich nach wie vor der Meinung, dass die Schulen mit ihrem eindimensionalen Erziehungsprogramm Menschen hervorbringen, die dem Leben gegenüber unaufgeschlossen sind und gedanklich nicht von der Stelle kommen.
Mit dieser Einstellung hatte ich für den Unterricht am Gymnasium nichts als Verachtung übrig und wurde den Lehrern gegenüber immer frecher. Mit kindlicher Grausamkeit war ich stets darauf aus, sie in Verlegenheit zu bringen. Eines Tages las ich irgendwo eine Frage, die Descartes einmal gestellt hatte, und gab sie an meinen Physiklehrer weiter.
»Newton zufolge gerät ein Körper in Bewegung, wenn er von einem anderen Körper angestoßen wird, und durch einen anderen Körper kommt er wieder zum Stillstand. Wenn ich jetzt meinen Arm hebe, durch welchen Körper wird er dann angestoßen? Er geht doch von selber hoch; sind also die Newtonschen Gesetze falsch?«
Dass die Frage von Descartes stammte, sagte ich natürlich nicht. Der Lehrer, bei dem wir gerade Newton durchnahmen, stammelte verblüfft: »Aber es gibt doch eine Seele.«
Ich ließ nicht locker. »Sie behaupten also, die Newtonschen Gesetze seien falsch?«
Der arme Mann, der nicht ahnte, dass er es eigentlich mit Descartes zu tun hatte, warf wütend seinen Schlüsselbund zu Boden. »Der Teufel soll dich holen!«, rief er und stürmte aus der Klasse. Solche Siege waren mir aber bald nicht mehr genug, denn ich war auf echte Abenteuer aus.
W enn das Schuljahr zu Ende geht und einem notenbedingt lauter Nachholprüfungen bevorstehen, spürt man eine Zentnerlast auf den Schultern. Noch ganz benommen von den Strapazen des Unterrichts ist man unfähig zu irgendeinem klaren Gedanken und lässt die Tage an sich vorbeiziehen wie eine endlose Reihe von Kugeln einer Gebetskette.
Es lag ein Frühlingserwachen in der Luft. Die Akazien dufteten so betäubend, dass es einem nachts den jugendlichen Atem verschlug. Während alles blühte und sprießte, saß man auf seinem Zimmer und zählte dumpf die Fliegen, die am Fenster emporkrabbelten. Und besonders frustrierend war das, wenn man gleich in sieben Fächern versagt hatte.
Als ich das Zeugnis mit den unseligen Zensuren dann in der Hand hielt, ging ich aus einem Impuls heraus zum ersten Mal in meinem Leben zu einem Fußballspiel. Ankaragücü trat damals gegen eine ausländische Mannschaft namens Amerigo an. Die Gegner spielten Katz und Maus mit unserem Team und fertigten es mit sieben zu null ab.
Dass mir schon wieder die fatale Sieben gegenübertrat, war mir ein Zeichen. Ich lief nach Hause, packte ein paar Kleider und Bücher ein und nahm das bisschen Geld an mich, das ich gespart hatte. In der Abenddämmerung ging ich zum Busbahnhof. Ein Schulkamerad hatte mir von Eskihisar und Darıca vorgeschwärmt, zwei Orten am Marmara-Meer. Mich lockte dort ein nach Meersalz duftendes Leben. Besonders seit ich Der alte Mann und das Meer gelesen hatte, galt mir nichts wichtiger mehr als Fische, Meer und Abenteuer.
Gegen Morgen stieg ich an der Strecke Ankara–Istanbul an einer Tankstelle aus dem Bus. Es war noch so dunkel, dass außer zwei Kaffeehäusern und der Tankstelle selbst nichts zu sehen war. Ich betrat eines der Kaffeehäuser, in dem vor allem Fernfahrer saßen, und bestellte mir einen Tee. Bei dem etwa gleichaltrigen Kellner erkundigte ich mich nach Eskihisar. Er sagte mir, hinter dem Kaffeehaus führe ein Weg durch den Wald.
»Bald kommen Förster, mit denen schicke ich dich mit.«
Nach Sonnenaufgang kamen tatsächlich zwei Förster, und nachdem sie ihren Tee getrunken hatten, machten wir uns gemeinsam auf den Weg nach Eskihisar. Es ging durch
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