Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
davon.
Auf einer dieser Eskapaden ließ ich mich auf ein gefährliches Spiel ein. Meine Freunde und ich teilten uns in einem großen Garten in zwei Mannschaften auf, verschanzten uns in etwa hundert Meter Abstand und schossen dann mit Schleudern aufeinander. Es war ein richtiger Kampf. Die Steine pfiffen über unsere Köpfe hinweg, und sie waren so scharf geschossen, dass wir uns damit ernsthaft verletzen, ja sogar umbringen konnten. Wir duckten uns also weg, so gut es ging, aber ich hatte nicht viel Glück dabei, denn plötzlich war mir, als explodierte mein Kopf, und mir wurde schwarz vor Augen. Ich verlor das Bewusstsein, und als ich wieder zu mir kam, hörte ich, wie ganz aufgeregt mein Name gerufen wurde. Mein Kopf ruhte auf jemandes Schoß.
»Zülfü! Zülfü!«
Ich erkannte die panische Stimme meines Bruders Asım, aber ich sah ihn nicht; ich sah überhaupt nichts. Ich musste blind sein! Mein erster Gedanke war: »Jetzt kannst du nicht heiraten!«
Es folgten die entsetzten Schreie meiner Mutter, der Transport ins Krankenhaus, die Operation. Mein linkes Auge war von einem Stein voll getroffen worden. Es war nicht ausgelaufen, doch die Iris war geplatzt und auch der Augenhintergrund lädiert. Da das Auge voller Blut war, sah ich überhaupt nichts damit.
Nach einer Weile brachte ich wenigstens das rechte Auge auf. Ich musste monatelang das Bett hüten und dabei stets auf dem Rücken liegen, so dass meine Eltern und meine Großmutter sich an meinem Bett ständig abwechselten. Auch musste ich schmerzhafte Behandlungen über mich ergehen lassen. Mein Vater mit seinem dürftigen Beamtengehalt brachte mich zu den besten Ärzten, und so sah ich zum ersten Mal Istanbul beziehungsweise sah es nicht. Eine Unterstützung durch das Justizministerium hätte uns sogar einen Aufenthalt in Wien ermöglicht.
Es gab damals in Istanbul einen renommierten Augenarzt namens Emil Tahinci, von dem es hieß, man müsse monatelang auf einen Termin bei ihm warten. Ein Istanbuler Staatsanwalt vermittelte uns aber doch einen raschen Besuch bei dem Spezialisten, der uns dann verkündete, die Ansichten seiner Kollegen könne er nicht teilen. Eine Behandlung in Europa erscheine ihm nicht angebracht. Selbst wenn die Verletzungen gut verheilten, würde das Auge schwer beeinträchtigt bleiben. Emil Tahinci sagte mir ins Gesicht, mein Auge sei verloren und damit hätte ich mich eben abzufinden.
Als ich Jahre später mit Elia Kazan auf einer Bootstour in der Ägäis unterwegs war, kamen wir auf Verwandte von ihm in Istanbul zu sprechen und unter anderem auf einen Onkel von ihm namens Emil Tahinci. Ich erzählte daraufhin von meiner Begegnung mit dem Augenarzt und den besonderen Umständen. »Das wundert mich gar nicht«, sagte Elia. »Alle Künstler, die ich kenne, haben etwas Abnormales an sich.«
Von dem weltweiten Neurotikerklub war also auch er überzeugt.
E s war ein drückend heißer Sommertag, ein »Tag am Nachmittag der Welt«, wie es bei William Saroyan so schön heißt. Ich saß in meinem Zimmer und schaute den Fliegen zu. Immer wenn eine im Sturzflug auf meinen Schreibtisch zusauste, hielt ich den Atem an. Auf dem Tisch lag nämlich eine Saz, und da sollten die Fliegen sich draufsetzen, aber die Mistviecher setzten sich überall hin, nur nicht auf das Instrument.
Ein, zwei Tage wartete ich so, bis sich endlich eine musikliebende Fliege auf einer Saite niederließ und ein sanftes »A« ertönte. Erleichtert machte ich mich daran, das Instrument zu erforschen und seinen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Ich hatte niemanden, der mir das Spielen beibringen konnte, denn ich kannte keinen einzigen Saz-Spieler. Es war damals kein Modeinstrument.
Anstatt der Saz, die mein Leben verändern sollte, hätte ich eigentlich ein Fahrrad bekommen sollen, also die übliche Belohnung für einen Schüler, der seine Versetzung gerade noch schafft. Doch waren kurz davor bei uns im Viertel zwei junge Radfahrer von einem Lastwagen überfahren worden, und mein Vater war daraufhin erschrocken vom Rad zur Saz umgeschwenkt.
Ich weiß noch, wie enttäuscht ich zunächst war. Was sollte ich mit diesem so fremden, allgemein verschmähten Instrument anfangen? Mein Vater versuchte es mir schmackhaft zu machen, indem er sagte, die Saz sei ein altes anatolisches Instrument, durch das ich als privilegierter Privatschüler einen lebenslangen engen Bezug zum anatolischen Volk aufbauen könne. Nun, ich begann mich mit der Saz zu beschäftigen. Die
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