Roman mit Kokain (German Edition)
die Menschen lieber aus. Kann man nichts machen – europäisch muss man sein .» Da, in dieser Minute, richtete sich Burkewitz, der ebenfalls dort stand, für alle unerwartet zum ersten Mal an Stein: «Sie, Herr Stein, so scheint mir » , sagte er, «Sie fürchten sich vor Antisemitismus? Ganz unnötig. Vor Antisemitismus muss man sich nicht fürchten, denn er ist höchstens abstoßend, bedauernswert und dumm: abstoßend, weil er sich gegen das Blut richtet und nicht gegen die Persönlichkeit, bedauernswert, weil er neidet, obwohl er sich den Anschein der Verächtlichkeit gibt, dumm, weil er noch stärker vereint, was er zu zerstören sich zum Ziel gemacht hat. Juden hören nicht dann auf, Juden zu sein, wenn das Jude-Sein in nationaler Hinsicht nicht mehr von Vorteil ist, sondern dann, wenn es im moralischen Sinne schändlich würde. Denn schändlich im moralischen Sinne wäre ein Jude dann, wenn unsere Herren Christen endlich wahrhaftige Christen würden oder, anders gesagt, Menschen, die bewusst ihre eigenen Lebensbedingungen verschlechtern, um damit das Leben anderer zu verbessern, und aus dieser Verschlechterung Befriedigung und Freude erführen. Aber bisher ist das noch nicht geschehen, zweitausend Jahre waren dafür anscheinend nicht genug. Ihr Reden war darum ganz unnötig, Herr Stein, ganz umsonst versuchen Sie sich Ihre zweifelhafte Würde zu erkaufen und erniedrigen damit vor diesen Schweinen jenes Volk, dem Sie selbst die Ehre haben, hören Sie, die Ehre haben!, anzugehören. Möge es Ihnen nur peinlich sein, dass ich – ein Russe – Ihnen – einem Juden – das sage .»
Schweigend stand ich da, wie auch alle anderen. Und es scheint mir, als hätte ich, wie alle anderen, zum ersten Mal, zum ersten Mal in meinem ganzen Leben beißenden, süßen Stolz darauf empfunden, Russe zu sein und dass unter uns wenigstens einer wie Burkewitz war. Warum und woher in mir dieser Stolz plötzlich aufkam – ich wusste es nicht wirklich. Ich wusste nur, dass Burkewitz einige Worte gesagt hatte und ich schon vorher, noch bevor ich ihren Sinn erfasst hatte, in seinen Worten einen besonderen ritterlichen Geist gespürt hatte, einen Geist, der die persönliche Selbsterniedrigung zuließ, um einen schwachen, entrechteten Fremden zu verteidigen, einen ritterlichen Geist, wie er in nationalen Fragen charakteristisch für einen Russen war. Und allein weil niemand von uns Burkewitz widersprach, weil der Trupp, der Stein umringt hatte, sich schnell aufzulösen begann, als wollte er sich nicht an einer für ihn unehrenhaften Angelegenheit beteiligen, und weil einigte sagten: «Richtig, Waska » , «Recht hast du» , «Gut gesagt » , schien mir, dass auch die anderen ganz genauso empfanden wie ich und sie Burkewitz lobten für dieses erhebende Gefühl nationalen Stolzes, das er ihnen mit seinen Worten vermittelt hatte. Wer aber diese Gefühle nicht empfand und natürlich auch nicht empfinden konnte, war Stein selbst. Abrupt wandte er sich wütend lächelnd ab, trat zu Eisenberg, steckte ihm seine riesigen weißen Finger in den Gürtel und zog ihn an sich, um ihm leise etwas ins Ohr zu sagen oder ihn etwas zu fragen.
In den ersten Minuten danach erfüllte mich eine gewisse, vage Feindseligkeit gegenüber Stein. Diese Feindseligkeit verging jedoch schnell, nämlich als ich mir vorstellte, was gewesen wäre, wenn damals, während der Pause, als meine Mutter mit dem Umschlag zur Schule gekommen war und ich – ganz genauso wie Stein – sie in der Annahme verleugnet hatte, ich könnte damit meine Würde retten, wenn also damals ebendieser Burkewitz an uns herangetreten wäre und mir gesagt hätte, dass es sich für einen Sohn nicht gehörte, sich zu schämen und die Mutter zu verleugnen, nur weil sie alt, abstoßend und abgerissen wäre, dass ein Sohn seine Mutter vielmehr zu lieben und zu achten hätte, und umso mehr zu lieben und zu achten, je älter, gebrechlicher und abgerissener sie wäre; wenn also in der Pause etwas Ähnliches geschehen wäre, dann wäre es gut möglich gewesen, dass die Mitschüler, die mich nach der Schießbudenfigur gefragt hatten, mit Burkewitz einer Meinung gewesen wären und vielleicht sogar zu allem Ja und Amen gesagt hätten; aber ich, ich selbst, hätte in diesem peinlichen Moment natürlich weniger die mir von einem Fremden aufgedrängte Liebe zur eigenen Mutter empfunden als vielmehr Feindseligkeit gegenüber diesem Menschen, der sich in Dinge einmischte, die ihn absolut nichts angingen.
Die
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