Roman mit Kokain (German Edition)
Stein und Eisenberg, den Stein höhnisch «Krieg der weißen und der roten Rose » 11 getauft hatte, dieser Krieg, in dem Burkewitz’ außerordentliche Überlegenheit schon entschieden von allen empfunden wurde, fand ein jähes Ende, als die Klasse ihre einhellige Meinung darüber endlich zum Ausdruck brachte.
Dies geschah ganz zufällig: Einmal, Anfang November, morgens, als alle sich in ihre Bänke setzten und auf den Geschichtslehrer warteten, betrat ein Schüler der achten Klasse schnellen Schrittes den Raum, und zwar mit solcher Entschlossenheit, dass die ganze Klasse aufstand, weil sie ihn für den Lehrer hielt. Dieser Schüler musste sich daraufhin außerordentlich heftige Schimpftiraden anhören, die aber derart freundschaftlich waren, dass er frech aufs Lehrerpult trat, vor Verwunderung die Arme ausbreitete und sagte : « Verzeihen Sie, meine Herren, aber ich verstehe nicht, was das hier ist – eine Gefängniszelle und Sie Verbrecher, die ihren Zellengenossen mit dem Anstaltsleiter verwechseln? Oder ist das hier die sechste Klasse des Moskauer Humanistischen Gymnasiums ?»
«Meine Herren » , fuhr er außerordentlich ernst fort, «ich bitte eine Minute um Ihre Aufmerksamkeit. Heute Morgen ist in Moskau der Herr Minister für Volksaufklärung eingetroffen, und es gibt Grund anzunehmen, dass er uns morgen im Laufe des Tages besuchen wird. Mir scheint, es ist überflüssig, Ihnen zu sagen – denn Sie wissen es ja selbst – , welche Bedeutung für unser Gymnasium der Eindruck hat, den der Herr Minister aus diesen Mauern mitnimmt. Ebenso wissen Sie, dass die Direktion des Gymnasiums, die keine Möglichkeit einer Besprechung mit uns im Sinne einer Vorbereitung auf einen solchen Besuch sieht, es jedoch mit Wohlwollen sehen würde, wenn etwas dieser Art von uns selbst unternommen würde. Meine Herren, ich bitte Sie jetzt, mir Ihren besten Schüler zu nennen: Heute Abend lädt man ihn ein, an einer kleinen Sitzung teilzunehmen, und morgen wird er Ihnen, als Ihr Vertreter, die allgemeine Entscheidung mitteilen, die jeder von Ihnen, im Bestreben, die langjährige und makellose Ehre unseres ruhmreichen Gymnasiums zu erhalten, ohne Widerrede zu befolgen hat .»
Nachdem er dies gesagt hatte, führte er sich ein geöffnetes Büchlein vor seine offenbar sehr kurzsichtigen Augen, setzte seinen Bleistift an, blinzelte in Erwartung eines Lauts und fügte hinzu: «Wie ist also der Name ?»
In einem Stimmengewirr, als brummten an den Scheiben Hunderte wütender Fliegen, brach die Klasse los: «Bur-ke-witz !» Von hinten sagte jemand fast zärtlich: «Zeig dich, Waska » , allein, es war ganz und gar unnötig, sich zu zeigen, denn der Gymnasiast notierte den Namen, bedankte sich und lief eilig hinaus. Das Spiel war verloren. Der Krieg zu Ende. Burkewitz war der Primus.
Und als hätte der eintretende Geschichtslehrer gewusst, dass der Wettkampf ein Ende gefunden hatte (oder vielleicht auch aus anderen Gründen), setzte er sich und scharrte dann säuerlich mit den Füßen übers Podest, rief sogleich Burkewitz auf und bat ihn, die laufende Lektion vorzutragen, ergänzte aber: «Ich bitte Sie, sich an den L-Lehrplan des Gy-Gymnasiums zu halten .» Burkewitz hatte verstanden. Er begann von der laufenden Lektion zu berichten und tat es im Sinne des gymnasialen Lehrplans, im Sinne der makellosen Ehre unseres ruhmreichen Gymnasiums und im Sinne des Herrn Ministers für Volksaufklärung, der am Morgen in Moskau eingetroffen war.
«Wenn nicht der Rotz aus mir einen Menschen gemacht hätte, dann wäre statt eines Menschen aus mir Rotz geworden » , so sagte Burkewitz mir in der Zeit der Abschlussprüfungen, nachdem der Skandal mit unserem Schulpopen uns einander ein wenig nähergebracht hatte. Aber das war erst während unserer letzten Tage am Gymnasium. Bis dahin hatte Burkewitz die ganze Zeit über und außerhalb der schulischen Zusammenhänge weder an mich noch an sonst irgendjemanden ein Wort gerichtet, er behandelte uns weiterhin wie Fremde; nur zu Stein sagte er ein paar Worte aus folgendem Anlass: Einmal, während der großen Pause, begann eine um Stein herumstehende Schar von Gymnasiasten mit diesem eine Unterhaltung über Ritualmorde, wobei jemand Stein hämisch grinsend fragte, ob er an die Möglichkeit und die Existenz von Ritualmorden glaube. Auch Stein lächelte, aber als ich sein Lächeln sah, krampfte sich mein Herz zusammen. «Wir Juden » , antwortete Stein, «vergießen menschliches Blut nicht gerne. Wir saugen
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